Schlagwortarchiv für: Susanne Witzigmann

Manchmal klappt’s doch

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Als ich noch klein war, las uns meine Mutter abends oft etwas vor. Unter anderem aus einem Kinderbuch, das schon seit Generationen in der Familie weitervererbt wurde. Die Geschichte spielte zu Beginn des letzten Jahrhunderts und handelte von einem kleinen Mädchen, das seine eigenen Vorstellungen von der Welt hatte und den Anweisungen der Erwachsenen öfter mal zuwider handelte. Anders gesagt, es hatte viel mehr Mut als ich. Und es hatte eine Oma Dresden. Als ich dann lesen lernte und mit meinen Eltern zu meiner Oma Bamberg fuhr, vertrieb ich mir die fünf Stunden Fahrtzeit mit dem Entziffern der Wörter auf den Autobahnschildern. Auf einem stand „Dresden“. Sofort dachte ich an meine Kinderbuchheldin und deren Oma. Ich fragte meine Eltern, ob wir auch mal nach Dresden fahren könnten, und erfuhr so die Sache mit der Mauer. Sie beschäftigte mich nachhaltig. Von da an wünschte ich mir jedes Mal, wenn wir wieder an diesem Schild vorbeifuhren, dass wir doch einfach mal dort abbiegen würden. Und noch heute denke ich jedes Mal daran, wenn ich von meinen Eltern kommend von der A 7 an diesem Schild (oder seinem Nachfolger) den Blinker setze und abbiege. Heute wohne ich in der Nähe von Dresden.

Trotzdem sollte man beim Wünschen eine gewisse Vorsicht walten lassen: Als Studentin wünschte ich mir immer eines dieser großen Autos einer bestimmten Marke. Die hatten damals Kultstatus. Vorausgesetzt, sie waren uralt, ziemlich verbeult und in einer ungewöhnlichen Farbe lackiert. Rosa oder lila. Oder so. Natürlich hatte ich kein solches Auto. Und irgendwann vergaß ich meinen Wunsch auch wieder. Bis ich dann viele – nein, sehr viele – Jahre später mit genau solch einem Auto durch Leipzig fuhr. Mindestens zwanzig Jahre alt (das Auto), nur noch wenig Lack auf dem Blech, mit abgerissenen Zierleisten und (kein Scherz) einem Knoten in der Antenne. Als mir auffiel, dass sich nun mein Wunsch erfüllt hatte, musste ich erst einmal anhalten, weil ich einen Lachkrampf bekam. Das Auto gehörte übrigens meinem damaligen Freund und heutigen Mann, der sich einen Spaß daraus machte, die Schrottkarre auf dem Uniklinik-Parkplatz direkt neben den schicken Karossen seiner Kollegen zu parken.

Die dritte Geschichte, die mir passiert ist, hat selbst mich Verstandesmenschen (muss ja nicht nur mein eigener sein) ein wenig nachdenklich gemacht: Es gab einmal eine sehr nahe Freundin in meinem Leben. Wir hingen sprichwörtlich zusammen wie Pech und Schwefel und nichts schien uns trennen zu können. Wir sind auch viel zusammen gereist, mit ihr habe ich beispielsweise ‚mein‘ Schottland entdeckt. Doch dann geschah etwas, was manchmal im Leben passiert, ohne, dass man es wirklich versteht oder verhindert. Jedenfalls hatten wir anschließend viele, viele Jahre keinerlei Kontakt mehr zueinander. Natürlich gab es neue Freunde und neue Reisen und sie sind alle wichtig für mich und Teil meines Lebens geworden. Doch wie gern wollte ich wieder dieser einen Freundin nahe sein, mit ihr reden, lachen. Und reisen. Die meisten Geschichten verlaufen sicher anders. Doch manchmal hält das Leben tatsächlich eine zweite Chance bereit. Nächste Woche fliegen diese Freundin und ich zusammen in den Urlaub. Mehr als doppelt so alt wie beim letzten Mal und (hoffentlich) ein bisschen klüger.

Ich würde nicht darauf bauen, aber manchmal funktioniert die Sache mit dem Wünschen eben doch. Und dann braucht’s nur noch ordentlich Geduld 😉

Hier wohnten die Mc Cullochs

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Blick von den Zinnen von Cardoness Castle

… und zwar ab dem späten 15. Jahrhundert. Als Wehrburg und schottisches ‚Tower House‘ bot Cardoness Castle südwestlich von Gatehouse of Fleet in der Region Dumfries und Galloway viel Komfort. Der neueste architektonische Schrei fand hier auf sechs räumlich gut durchplanten Etagen seine Umsetzung, mit einer ehemals prächtigen Empfangshalle, zahlreichen kleinen und größeren Gemächern, zwei Gefängniszellen sowie viel Stauraum in verschieden tiefen Kellern für alles, was man zum Leben und zur Verteidigung so brauchte. Eine echte Residenz für den Laird der McCullochs of Myreton und seine Familie.

Diese wohnte hier bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Leider vertrugen sich die McCullochs aber nicht mit den Gordons, ihren Nachbarn. Und nachdem Sir Godfrey McCulloch ein Mitglied der Gordons gar ermordet hatte, floh er zunächst nach Frankreich, wurde aber später zurück in Schottland gestellt und hingerichtet. Danach gab der Clan der McCullochs Cardoness Castle auf. Die Burg wechselte anschließend mehrfach den Besitzer, neue Bewohner erhielt sie aber nicht mehr. Heute wird Cardoness Castle von ‚Historic Scotland‘ verwaltet.

Als ich den Ticket-Shop betrat, war die Angestellte gerade in einem ausgesprochen lebhaften Gespräch mit einem Ehepaar. Hinterher erzählte sie mir lachend, dass der Ehemann ein echter McCulloch sei, in den USA lebe und gerade zum ersten Mal die Burg seiner Vorfahren besucht habe. Gut, dass gerade kein Gordon in der Nähe war. 😉

Pragmatismus auf Schottisch

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… ist mir heute im Küstenort Whithorn in Gestalt einer Tankstelle begegnet, deren Kassenhaus – vermutlich aus Platznöten – direkt in den Eingang einer ‚ausgedienten‘ Kirche gebaut wurde. 20170521_15275120170521_153343Überhaupt werden Kirchen hier bisweilen zweckentfremdet. Manchmal laufen sogar Abwasserrohre mitten durch die Sitzreihen und verschwinden dann wieder im Boden. Zwar ist mir in den letzten sechs Tagen hier noch immer kein Schotte im Rock begegnet, doch ich habe die zauberhafte Region Dumfries und Galloway inzwischen fest in mein Herz geschlossen.

Ein Garten wie im Märchen

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Diesmal ist es die Region Dumfries und Galloway, in der meine Reise startet. Die Sonne strahlt bereits vom Himmel, als ich am 16. Mai in Glasgow lande. Gut zwei Stunden Fahrt liegen vor mir, es geht in den südwestlichsten Zipfel des Landes. Ein Teil der Fahrt führt an der malerischen Küste entlang. Die sanfte grüne Hügellandschaft um Stranraer erinnert mehr an England als an Schottland. Und auch die Männer im Kilt vermisse ich hier. Dafür lerne ich gleich am ersten Tag einen zauberhaften Garten kennen. Eigentlich sind es mehrere, wie auch der Name ‚Castle Kennedy Gardens‘ deutlich macht. Namensgeberin ist eine Schlossruine aus dem Jahr 1607, die sich gleich am Eingang zu diesen Traumgärten befindet. Sie soll bereits 1716 ausgebrannt sein und wurde nie wieder aufgebaut. Vollkommen intakt hingegen ist ‚Lochinch Castle‘ (Foto) aus dem Jahr 1864 am anderen Ende des riesigen Areals. Das Schloss ist in Privatbesitz und kann nicht besichtigt werden. Doch es gibt auch so unglaublich viel zu sehen in dieser unbeschreiblichen Gartenlandschaft mit liebevoll angelegtem ‚Walled Garden‘, ‚Heather Garden‘, Teichen, riesengroßen Azaleen- und Rhododendronbüschen, verschwiegenen Pfaden, Plätzen und Bänken, prächtigen Rasenflächen und Waldzonen mit vielen unterschiedlichen Baumarten. Wer will, kann diesen einmaligen Ort auf vier verschiedenen Wegen durchlaufen. Dafür sollte man Zeit mitbringen, mindestens einen halben Tag. Umgeben ist ‚Castle Kennedy Gardens‘ von einem weißen und einem schwarzen See. Ein echtes Paradies.

Vorbilder

Das außergewöhnliche Leben der Lillian Gilbreth (1878 – 1972)

Ein Gastbeitrag von Alicia Muth

Manchmal im Leben wird man gefragt, ob man Vorbilder, gar Idole, habe. Ich hatte damit immer ein kleines Problem – ich hatte eigentlich nie so recht eines. Kein echtes, fixes, mal abgesehen von meinen Eltern, die ja für alle Kinder in gewisser Weise ein Vorbild sind. Und abgesehen von Oma Margareta, die das nach wie vor für mich ganz speziell ist.

Im zarten Alter von elf oder zwölf Jahren lernte ich dann jemanden kennen, der heute mein Vorbild ist, obwohl wir im Grunde rein gar nichts gemeinsam haben, abgesehen von der Tatsache, dass wir beide Frauen sind. Mein Vorbild vielmehr war es, denn sie ist schon lange tot.

Ich lag mit einer schlimmen Bronchitis und Fieber krank im Bett. Alle Bücher waren bereits gelesen, andere Beschäftigungsmöglichkeiten waren aufgrund der Erkrankung nur erschwert möglich. Meinem Vater tat das leid, und als er einmal in die Stadt fahren musste, um Besorgungen zu machen, ging er in eine Buchhandlung. Er wusste, wie gerne ich lese. Und nach seiner Rückkehr nach Hause kam er in mein Zimmer und hielt ein Buch in der Hand. Ein Taschenbuch. Er wirkte fast ein wenig verlegen, als er meinte: „Ich habe leider den ersten Band nicht bekommen – das sind eigentlich zwei Bände. Aber es wird dir sicherlich gefallen.“ Und er berichtete, dass es um eine amerikanische Familie gehe, eine Familie mit zwölf Kindern, und die Handlung spiele in den 1920ern. Er erklärte, der Vater sei Ingenieur gewesen, Spezialist für Rationalisierung und Arbeitsoptimierung inklusive Zeitstudien.

Ich hörte nur „Ingenieur“, und da mein Vater selber Ingenieur ist und ich von klein auf stets dergestalt mit technischen Erklärungen, Lehrstunden und weiteren Dingen dieser Art konfrontiert worden war, dass es manchmal etwas nervend wurde, dachte ich: „O Gott! Nun auch noch im Krankenbett! Und die Handlung spielt auch noch in der Urzeit!“ Aber da ich sehr an meinem Vater hänge und mich rührte, dass er in der Stadt extra an mich gedacht hatte, las ich das Buch an. Etwas zögerlich zunächst. Und dann legte ich es nicht mehr aus der Hand, denn es war nicht nur interessant, sondern fesselnd. Ein so liebenswertes Buch war es, dass ich ganz traurig war, als ich es ausgelesen hatte. Man mag es nun für verrückt halten, aber ich las es direkt noch einmal. Mein Vater hatte einen Elfmeter getroffen.

Jahre später entdeckte ich bei meinem Ex Richie den ersten Band und las ihn auch in einem Stück durch. An einer Stelle liefen mir dann sogar Tränen übers Gesicht, so sehr hatte ich mich mit dieser Familie „angefreundet“: gegen Ende des ersten Bandes, als der Vater ganz plötzlich und unerwartet stirbt. Band zwei hatte kurz nach dessen Tod eingesetzt, und obwohl ich ja wusste, was Sache war, berührte mich das Ganze doch sehr. Denn: Es ist alles authentisch. Diese Familie, die so sympathisch und tüchtig war, gab es

Postage stamp USA 1983 Lillian M. Gilbreth

Copyright: laufer – Fotolia.com; a stamp printed in the USA in 1983 shows Lillian M. Gilbreth, American psychologist and industrial engineer

wirklich: die Familie Gilbreth. Nach den Büchern sind in den 50ern zwei Filme gedreht worden – „Cheaper By The Dozen“ und „Belles on Their Toes“, zu Deutsch: „Im Dutzend billiger“ und „Aus Kindern werden Leute“.

Mein spezielles Vorbild kommt aus dieser Familie und wurde aufgrund höherer Gewalt zu deren Oberhaupt: Lillian E. Moller Gilbreth, die Mutter des Dutzends. Ihr seht, wir haben schon an dieser Stelle rein gar nichts gemein, denn ich habe nicht einmal ein einzelnes Kind. Geschweige denn ein rundes Dutzend.

Und doch ist sie mein Vorbild, denn sie hatte es gar nicht leicht, als ihr Mann gestorben war und sie ihre Kinder allein durchbringen musste. Da sie selber Psychologin und Ingenieurin war und stets mit ihrem Mann zusammengearbeitet hatte, übernahm sie seine Aufgaben, um die Firma weiterzuführen und die Familie zu ernähren, den Kindern ein Studium zu ermöglichen, wie es stets ihr und ihres Mannes Wunsch gewesen war. Aber man machte es ihr trotz ihrer Kenntnisse, ihrer Intelligenz und ihres gesunden Menschenverstandes nicht leicht. Kein Wunder in dieser Zeit, denn sie war ja eine Frau, und die konnten doch nur kochen, backen, gegebenenfalls Klavier spielen, sticken, stricken, häkeln und Kinder bekommen und erziehen. So dachte man wohl.

Aber Lillian Gilbreth hat gekämpft. In erster Linie für den Erhalt ihrer Familie, denn wäre sie gescheitert, hätte die Familie nicht zusammenbleiben können, und die Kinder hätten zwar nicht im Heim, aber bei Verwandten untergebracht werden müssen, etwas, das Lillian Gilbreth um fast jeden Preis verhindern wollte. Nur im absoluten Notfall wollte sie das akzeptieren – die Kinder sahen es genauso. Schlimm genug, dass der Vater so plötzlich gestorben war – man hielt zusammen, um nicht auseinandergerissen zu werden.

Aber auch die Firma ihres Mannes, der ja ein gefragter Experte war, musste weiterbestehen. Sie verfügte über die gleiche Expertise, aber man nahm sie nicht für voll, belächelte sie in den „Roaring Twenties“.

Geschafft hat sie es durch Beharrlichkeit, ihre Kenntnisse und ihren offenbar ungebrochenen Willen. Und damit überzeugte sie auch die ärgsten Zweifler. Und so erlangte sie nicht nur den Grad eines PhD, sondern wurde damit auch noch Professorin an der Purdue University, dem New Jersey Institute of Technology und an der University of Wisconsin-Madison.

Mein Vater berichtete immer voller Hochachtung, wie er als Student an der RWTH Aachen einen Gastvortrag besucht habe, den Lillian Gilbreth, schon recht alt, dort gehalten hätte. Sie sei eine sehr beeindruckende Persönlichkeit gewesen, und er ziehe den Hut vor ihrer Leistung. „Eine echte Ingenieurin mit sehr viel Stil und Autorität.“ So sagte er immer.

Aber dass mein Vater sie quasi persönlich „kannte“, habe ich erst lange nach seinem Buchmitbringsel erfahren. Das machte das Ganze natürlich noch viel interessanter.

Lillian Gilbreth und ich haben im Grunde rein gar nichts gemeinsam. Aber sie ist ein Vorbild, da sie nie aufgab. Und sie ist für mich im Hinblick auf Emanzipation ein echtes Vorbild, da sie das Prinzip nicht nur verstanden hatte, sondern auch lebte. Und das bereits vor dem Tod ihres Mannes. In den Goldenen Zwanzigern. Keine bloße Umkehrung von Vorzeichen, die keinerlei Fortschritt bringen würde; nur, dass dann die andere Gruppe sich die Rosinen herauspicken würde, statt der bisherigen. Das war wohl nicht ihre Linie. Sie hat es rigoros durchgezogen, doch wohl nicht nur, weil sie musste. Offenbar eine echte Persönlichkeit. Und da ich das so bewundernswert finde, hängt schon seit längerer Zeit ein Foto von ihr an meiner Büro-Pinnwand. Als dezente Mahnung, niemals aufzugeben, ganz gleich, was für ein Murks über einen hereinbricht.:-)

Und damit ähneln meine beiden speziellen Vorbilder einander. Und noch etwas: Knöpft eure Blusen und Hemden immer von unten nach oben zu. Spart Zeit. Und wenn ihr das nächste Mal einen Tret-Mülleimer oder einen Handmixer benutzt, denkt an Lillian Gilbreth: Wäre sie nicht gewesen, hätten beide Dinge von jemand anderem erfunden werden müssen. Und nicht nur die.:-)

Sage zur Johannisnacht

318„Jetzt zogen Nebelschwaden vom Fuß des Berges herauf und legten sich wie ein kühler Hauch über das Land. Auch die Natur präsentierte sich plötzlich verändert, die Nachtvögel waren verstummt und die Blätter der Bäume hatten aufgehört, im Wind zu tanzen. Die ganze Welt schien plötzlich still zu stehen, heute, in der Johannisnacht. Der einen Nacht im Jahr, in der sich der Berg dem öffnete, der zur richtigen Zeit kam.“

Sagenhafte Oberlausitz

Bei einem Anbieter für Städtereisen habe ich heute meinen Roman Johannisnacht als Buchempfehlung für die Lessing-Stadt Kamenz entdeckt. Das hat mich gefreut. Auf die kleine Stadt in der Oberlausitz bin ich während meiner Recherche gestoßen. Als ich auch noch eine Sammlung mit wunderschönen Sagen dieser Region entdeckte, habe ich entschieden, Kamenz in die Romanhandlung einzubeziehen. Die Stadt hat nämlich auch ihre ganz eigene Sage zur Johannisnacht (23. auf den 24. Juni, siehe ganz unten) …

Ein Besuch in Kamenz lohnt sich aber zu jeder Zeit!

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www.tripango.de/tourismus/kamenz/

„Der kleine Ort präsentierte sich in der warmen Nachmittagssonne von seiner strahlenden Seite. Ich ließ die Fassaden im klassizistischen Stil auf mich wirken, die vielen Durchblicke, die die schmalen Straßen boten, und die besondere Atmosphäre von Kamenz. An jeder Ecke wiesen kleine Schilder Ortsunkundige zu den Attraktionen der Stadt.“

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„In den Monaten nach unserer ersten Begegnung sind Benedikt und ich oft nach Sankt Marien in Kamenz gefahren. Dann haben wir uns auf unsere Bank auf dem alten Friedhof gesetzt und von dort hinunter in die Landschaft geschaut. Es ist so ein schöner und romantischer Platz. Oft stellten wir uns dabei vor, wie die Welt wohl 1729 ausgesehen hat, als Gotthold Ephraim Lessing geboren wurde. Benedikt hat alles von ihm gelesen und schätzt ihn sehr. Nicht weil er unser Nachbar ist – zeitversetzt natürlich -, sondern weil Lessing die Dinge immer von mehreren Seiten betrachtet und sich auch mit den Argumenten Andersdenkender auseinandergesetzt hat. Am besten gefällt Benedikt Lessings Vorstellung von Wahrheit, dass man sie nicht wie einen Gegenstand besitzen, sondern sich ihr nur immer wieder neu annähern kann.“

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„Sanfte Erhebungen zogen sich zu beiden Seiten der Fahrbahn bis an den Horizont. Kontrapunkte setzten Baumgruppen, die über die Landschaft verteilt standen. Ungewöhnlich für die Jahreszeit war nur der leichte Nebel, der alles in einen dünnen, weißen Schleier hüllte. Als ob ein Zauber auf dem Land läge. Vielleicht war das der Grund, warum die Wiesen und Felder diesen Sog auf mich ausübten und mich von Kilometer zu Kilometer weiter in die Landschaft hineinzogen. Die Alleebäume rechts und links der Straße neigten sich nach außen und erinnerten mich an den Zauberwald in meinem alten Märchenbuch. Dort hatten sich die Bäume genauso gereckt und nach Anbruch der Dämmerung nach den Menschen gegriffen. Gut, dass es noch Stunden dauerte, bis es dunkel wurde.“

 

309„Was halten Sie von einem Ausflug zum Reinhardsberg in der Johannisnacht?“ Ben sah mich forschend an.
„Spukt es dort?“
„Nicht direkt“, erwiderte Ben lachend. „Wenn man davon absieht, dass ein Kobold über einen Schatz wacht, der nur in der Johannisnacht gehoben werden kann.“
„Und wir zwei sollen uns jetzt auf die Suche nach diesem Schatz machen?“
„Wäre doch ein echtes Highlight für Ihren Artikel.“
„Und sobald der veröffentlicht ist, könnte sich die Stadt kaum noch vor Geister- und Schatzjägern retten“, sagte ich lachend. „Was genau muss man tun, um an den Schatz zu kommen?“
„Man muss in der Nacht vom 23. auf den 24. Juni den Berg besteigen. Dabei weist einem ein blaues Flämmchen den Weg zu einem Schlüssel. Der Weg soll an der Ostseite des Berges hinter einer eisernen Tür liegen, zu der auch der Schlüssel passt. Damit schließt man die Tür auf und findet schließlich das Gold. Aber man darf es noch nicht anfassen, sondern muss zunächst einen Gegenstand darauf werfen. So verlangt es die Sage. Dann verlässt man den Schatz wieder, ohne sich noch einmal umzudrehen.“
„Immer dasselbe“, warf ich ein, „mit dem Umdrehen haben bereits Orpheus und Lots Frau denkbar schlechte Erfahrungen gemacht.“
„Nach drei Tagen kommt man schließlich zurück und darf an der Stelle graben, an der man zuvor das Tor gesehen hat. Dort holt man dann den Schatz heraus“, beendete Ben seine Erzählung.
„Und das klappt?“, fragte ich schnell.

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Alle Zitate sind dem Roman Johannisnacht von Nora Gold entnommen.

Der Roman ist als Print-Ausgabe oder eBook bei Amazon erhältlich.

ÜBER PÄDAGOGISCH WERTVOLLES SPIELZEUG UND SEINE AUSWIRKUNGEN

Ein Gastbeitrag von Almut Bieder

Diesen Beitrag schreibe ich für meine Schwester Stephanie. Sie ist mir manchmal etwas fremd, weil wir arg verschieden sind, aber ich mag sie sehr, und als wir heute telefonierten, kamen wir – ich weiß nicht mehr, wie – auf ein Thema, das uns als Kinder sehr bewegte: Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke. Und die daraus resultierende Freude. Aber auch den bisweilen daraus resultierenden Frust. Denn auch das kam vor.

Irgendwie war es aber auch nicht selten etwas ungerecht: Stephanie wünschte sich lange Zeit nichts mehr als eine – aus heutiger Sicht – stilistisch recht fragwürdige Puppe, die weinen und in die Hose machen konnte, wenn man – mit einem echten Baby würde man niemals so umgehen! – ihren linken Arm mit Schmackes hinunterdrückte. Dann verzog das im Grunde recht hässliche Ding sein Gesicht, und Tränen, genauer: Wasser, das man zuvor mit einer zum hässlichen Puppenkind gehörigen Flasche in die Öffnung im Mund praktiziert hatte, strömte aus den Augen. Und das Puppenkind war darob so frustriert, dass ein Teil auch noch in der zugehörigen Windel landete. Das Ding hatte jahrelang auf Stephanies Wunschzettel gestanden, bis ich es dann geschenkt bekam. Dabei hatte ich es mir nicht halb so inbrünstig gewünscht. Damals konnte ich das noch nicht so recht sehen, heute tut es mir leid für Stephanie, denn diese Puppe war ja nicht das einzige Geschenk, das sich Stephanie vergeblich gewünscht hatte, während es dann irgendwann für mich auf dem Gabentisch lag.

Das geschah keineswegs durch meine Eltern – denen tat das auch leid. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte ich diese Puppe nicht bekommen, ebensowenig den Chemiekasten und so viele andere Dinge. Das kam von anderen Verwandten, und Stephanie stand dann immer traurig daneben. Fair war das nicht. Aber es gibt ja immer irgendwie einen Ausgleich im Leben, wenn’s auch nicht tröstet.

Meine Eltern gaben sich immer große Mühe mit den Geschenken, und meist trafen sie auch ins Schwarze. Meist. Denn bis heute weiß ich nicht, ob meine Mutter körperlich abwesend war, als mein Vater sich für das Einsteigerpaket „Meyertechnik“ erwärmte. Wohlgemerkt: Nicht für sich, denn er ist Diplom-Ingenieur, noch dazu Elektroingenieur, und ich werde den Eindruck nicht los, dass er auch gerne wollte, dass eine von uns eine Ingenieurwissenschaft studierte – später einmal. Da konnte man doch nicht früh genug ansetzen!

Ich bin mir inzwischen fast sicher, dass meine Mutter beim Kauf dieses Geschenks nicht anwesend war oder mit rationalen Argumenten nicht gegen meinen Vater ankam. Ich erinnere mich noch an jenen Heiligabend – ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein, Stephanie sieben -, als auf meinem Platz des Gabentisches viele schöne Sachen lagen. Auf Stephanies Platz lagen auch diverse schöne Sachen. Und ein großer Karton, in Geschenkpapier gehüllt.

Solch große Kartons zu Weihnachten sind ja immer recht spannungsgeladen – was mögen sie wohl enthalten? Man ist gespannt, entfernt vorsichtig das Geschenkpapier – um dann etwas zu finden, das man sich schon immer gewünscht hat! So machte es auch Stephanie. Sie zog ganz vorsichtig und sorgfältig, wie es ihre Art ist und weil es ja die Spannung noch steigert, die Tesafilmstreifen ab, die das Geschenkpapier hielten. Doch – wo blieb der Jubel? Er fiel doch sehr, sehr dünn aus, als das „Meyertechnik“-Einsteigerpaket zum Vorschein kam. Aber Stephanie war schon immer ein sehr diplomatischer Mensch, anders als ich: Sie bedankte sich lieb, aber an ihrem Gesicht war zu sehen, dass sie sich über die oben erwähnte, hässliche Puppe oder Vergleichbares weit mehr gefreut hätte.

Ich hatte da immer mehr Glück. Ich bekam meist Stofftiere. Und Lego. Mit beiden Dingen spielte ich sehr gern. Und Lego ist auch ungemein praktisch: Man braucht einen Grundbestand, und dann kann man immer Erweiterungen dazukaufen. Und so freute ich mich immer sehr über Lego – und praktisch war’s obendrein.

Diesen unglaublichen Vorteil, den Lego mit sich bringt, hat jedoch auch „Meyertechnik“ zu verbuchen. Sehr praktisch. Zumindest für die Schenkenden. Nicht für meine arme Schwester, die in der Folgezeit zuverlässig „Meyertechnik“-Erweiterungen geschenkt bekam. Und während ich mit den bunten Legosteinen Häuser baute, Fenster und Türen einsetzte und alles ganz toll fand, saß sie mit den technikgrauen Bauteilen von „Meyertechnik“ da und konnte sich zum Erstaunen meines Vaters gar nicht so sehr damit anfreunden, gar dafür begeistern. Sie beschäftigte sich – so denke ich – wohl mehr aus Pflichtbewusstsein damit, weil sie meinen Vater nicht enttäuschen wollte. Obwohl so ein reizender, kleiner und batteriebetriebener Motor – ergo ein Elektromotor – dabei war! Ich kann mich daran erinnern, dass die Dinge, die dann tatsächlich damit gefertigt wurden, nicht nur unter Regie meines Vaters, sondern eigentlich ganz und gar von ihm gebaut wurden, während Stephanie und ich staunend danebenstanden!

Sogar eine kleine Seilbahn baute mein Vater, die von der Tür bis zum Fenstergriff unseres Kinderzimmers reichte! Der kleine Elektromotor, der als Antrieb fungierte, funktionierte prachtvoll und beförderte zahlreiche Puppen aus unserem Puppenhaus von der Tür bis zum Fenstergriff – und wieder zurück! Nur manchmal blieben die Gondeln mitten auf der gefährlichen Strecke stehen. Die Batterien waren so schnell leer … Und so mussten wir wiederholt einschreiten und als Rettungsmannschaft die armen Püppchen aus der Notlage befreien. Wahrscheinlich waren sie danach traumatisiert …

Irgendwie war „Meyertechnik“ nicht so der Brüller. Und heute gestand mir Stephanie am Telefon: „Das war gar nicht schön. Ich habe mich selten so doof und unfähig gefühlt, weil ich mit dem Bau dieser Sachen nicht klarkam.“ Ich konnte es ihr nachfühlen. Noch dazu, da sich dieses Gefühl ja in schöner Regelmäßigkeit an Geburtstag oder zu Weihnachten verstärkte … Mit jeder Erweiterungspackung.

Liebe Eltern, bitte achtet bei Geschenken für eure Kinder stets auf die Neigungen eurer Kinder. So manches pädagogisch wertvolle Spielzeug kann zum Bumerang werden und negative Gefühle beim Kind auslösen – schlimmstenfalls sogar das Gefühl eigener Unzulänglichkeit. Das sollte man vermeiden. Meine Schwester ist ein gutes Beispiel, die das Ganze heute jedoch sehr humorvoll betrachtet. Jedenfalls haben wir heute am Telefon beide sehr gelacht.

Für meine Schwester, die nicht nur unter mir leiden musste, sondern auch unter manchem Geschenk. Aber falls es Dich tröstet: Auch mich hat das Ganze gewissermaßen traumatisiert, denn ich fragte mich fortan immer, warum Du und nicht ich dieses Geschenk bekam. War ich per naturam zu blöd dazu? Du siehst: Probleme, wohin man nur schaut …

Ein besonderes Haus in Berlin

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Dieser Beitrag wurde auch bei Focus-Online veröffentlicht.

Es ist ein Muss. Seit ich vor Jahren zum ersten Mal im Berliner Brücke-Museum war, zieht mich das inmitten von Kiefern und Birken ein wenig versteckt in einer Dahlemer Wohnsiedlung gelegene Haus magisch an. Durch seine betont rechtwinklige Architektur mit den vielen Ein- und Durchblicken auf die umgebende Natur ist das Haus selbst schon etwas Besonderes. Für die expressionistische Brücke-Kunst bildet es den perfekten Rahmen.

Das Museum hat seit seinem Bestehen nicht nur die größte Sammlung an Brücke-Kunst zusammengetragen, wie die Museums-Webseite anschaulich beschreibt, das Haus besitzt – mit der Karl und Emy Schmidt-Rottluff-Stiftung – auch mehr als 2000 Werke von Schmidt-Rottluff. Dieser hat 1905 in Dresden gemeinsam mit drei anderen Architekturstudenten die Künstlervereinigung Brücke gegründet. Neben Karl Schmidt-Rottluff waren das Ernst Ludwig Kircher, Erich Heckel und Fritz Bleyl. Fernab der akademischen Pfade wollten sie gemeinsam neue künstlerische Wege gehen und prägten so den Expressionismus entscheidend mit. Ihnen schlossen sich weitere Künstler wie Emil Nolde, Max Pechstein und Otto Mueller an.

Von Dresden nach Berlin

Drei Sommer lang, von 1909 bis 1911, malten Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel an den Moritzburger Teichen vor den Toren Dresdens, schufen Landschaften und Akte in leuchtenden Farbkontrasten und reduzierten Formen, verzichteten auf traditionelle Proportionen und Perspektiven. Ich kenne die Landschaft, in der sie malten. Die besondere Atmosphäre, die Kirchner und Co. vor mehr als hundert Jahren dort empfunden haben müssen, erspürt man noch heute. Als würde diese Landschaft mit dem eigenen Innenleben in einen Dialog treten. 1911 endeten jedoch die sommerlichen Ausflüge nach Moritzburg und etwas Neues begann, als die Künstler nach Berlin zogen. In der Metropole, im Flair der Weltstadt, erhofften und fanden sie ein aufgeschlossenes Publikum und Anschluss an die internationale Avantgarde.

Viele Selbstporträts  

An seinem 80. Geburtstag soll Karl Schmidt-Rottluff den Vorschlag für den Bau des Brücke-Museums in Berlin gemacht haben. Das war im Jahr 1964. 1967 wurde das Museum in Dahlem eröffnet. Die aktuelle Ausstellung Karl Schmidt-Rottluff. Bild und Selbstbild zeigt einen Teil der 70 Selbstporträts des Künstlers. Gemälde, Zeichnungen und Druckgrafik. Die präsentierten Werke sind während eines Zeitraums von mehr als sechs Jahrzehnten entstanden und führen dem Besucher anhand desselben Motivs die künstlerischen Entwicklungen des Malers vor Augen. Dies ist möglich, weil Schmidt-Rottluff während seines langen Lebens ungewöhnlich viele Selbstporträts geschaffen hat. Umso auffallender ist, dass der Künstler während des Nationalsozialismus nur ein einziges Porträt von sich gemalt hat. Stattdessen schuf Schmidt-Rottluff während dieser Jahre, in denen er verfemt mit Berufsverbot belegt war und sein Werk als sogenannte „Entartete Kunst“ galt, verstärkt Bilder, die enge und beklemmende Innenräume darstellen.

Mit dabei wichtige Wegbegleiter

Die aktuelle Ausstellung des Bücke-Museums zeigt neben den Selbstporträts des Künstlers auch Bildnisse von Menschen, die in Schmidt-Rottluffs Leben eine wichtige Rolle gespielt haben. Wie seine Frau Emy. Ihr Porträt hat der Künstler immer wieder in verschiedener Ausdrucksform und Technik festghalten. Auch dies dokumentiert die Ausstellung sehr eindrucksvoll anhand zahlreicher Porträts von Emy, die während vieler Jahrzehnte entstanden sind. Besonders im Gedächtnis geblieben sind mir außerdem zwei Porträts der Kunsthistorikerin Rosa Schapire, die als passives Mitglied der Künstlervereinigung Brücke bis zu deren Auflösung 1913 angehört hatte. Ebenfalls mit Selbstbildnissen vertreten sind Karl Schmidt-Rottluffs Weggefährten Erich Heckel, Otto Mueller, Emil Nolde oder Ernst Ludwig Kirchner.

Die Ausstellung läuft bis zum 26. Juni 2016

Wieder einmal bin ich die Runde im weißen Atriumbau entgegengesetzt zur Ausstellungs-Chronologie gegangen und habe mir die jüngsten Bilder zuerst angesehen. Eine etwas andere, für mich sehr spannende Perspektive, die die künstlerische Entwicklung auf den Kopf zu stellen scheint. In diesem Fall sind die jüngsten Bilder Werke von Karl Schmidt-Rottluff aus den Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Die ältesten sind vor 1910 entstanden. Besonders erwähnen möchte ich auch das Bild Blockadestillleben von 1948, eins der wenigen Werke dieser Ausstellung, das keine Menschen zeigt. Die Anordnung der dargestellten Alltagsgegenstände und die Farben erzeugen eine beklemmende Atmosphäre beim Betrachter. So war zumindest mein Empfinden. Die Ausstellung läuft noch bis zum 26. Juni 2016. Sehens- und erlebenswert.

Tipp zur Anreise

Mit dem Bus kommt man bis kurz vor das Museum (Anfahrt-Infos auf der Museumsseite, s.u.). Wer jedoch Lust auf einen Spaziergang durch das Dahlemer Villenviertel hat und einen Überblick über die Architekturstile aus dem (überwiegend) letzten Jahrhundert bekommen möchte, kann in der U-Bahn-Linie 3 zur Podbielski-Allee fahren und dort den Schildern zum Brücke-Museum folgen. Der Fußweg ist gut zwei Kilometer lang.

Brücke Museum Berlin
Bussardsteig 9
14195 Berlin
www.bruecke-museum.de

Die Reise zu meinem Grossvater

28. Juli 2015

Gleich beginnt sie also, die Reise zu meinem Großvater. Ich wollte sie unbedingt allein und mit dem Auto machen. Einmal quer durch Deutschland, Polen, Litauen, Lettland und schließlich Estland. So weit ist der Weg nach Tallinn. Warum diese Reise? Im Mai bekam ich drei Briefe meines Großvaters zu lesen. Sie sind an seine damals junge Frau, meine Oma, gerichtet, und verraten einiges über ihren Verfasser. Interessiert hat mich mein Großvater seit meiner Kindheit, und ich habe oft und lange das große Foto von ihm betrachtet, das im Wohnzimmer meiner Oma hing. Der Mann darauf ist deutlich jünger als ich es heute bin. Und nun werde ich nach Tallinn zu seinem Grab reisen, als Erste aus der Familie. Was ich von dieser Reise erwarte? Genau weiß ich es nicht, denn seine Grabstelle allein wird nichts über meinen Großvater verraten. Doch ich freue mich auf den Besuch dort und bin ziemlich aufgeregt. Und ausgesprochen froh, dass ich mich nun doch für die schnellere Variante des Reisens entschieden habe und gleich von Düsseldorf aus nach Riga fliegen werde. Von dort sind es noch immer genügend Kilometer, um mich meinem Ziel langsam zu nähern.

Meine Reise startet mit einem Abstecher an die Kurische Nehrung, die einer meiner Lieblingsschriftsteller, Eduard von Keyserling (1855-1918), so wunderbar beschrieben hat, und von der ich hoffe, dass sie fast hundert Jahre nach seinem Tod noch genauso schön ist. Dann folgt eine zweitägige Stippvisite in Vilnius, Litauens Hauptstadt, bevor es mit einem Zwischenstopp im Städtchen Sigulda ganz in den Norden von Estland geht, nach Tallinn. Das Buch ‘Der Tod von Reval’ und andere kuriose Geschichten aus einer alten Stadt von Werner Bergengruen (1892-1964) liegt wohlverpackt in meinem Koffer. Vielleicht hätte ich doch zu einem anderen Buchtitel greifen sollen, überlege ich kurz.

Ein paar Stunden später …

Der Flug nach Riga mit der baltischen Airline war angenehm und relativ kurz, nur gut zwei Stunden hat er gedauert. Der Blick auf die von Wasserstraßen und kleinen Seen durchsetzte Küste Lettlands während des Anflugs war eindrucksvoll und wird mir wohl noch lange in Erinnerung bleiben. Warum bin ich nicht schon längst einmal hierhin gereist? Nach der Landung war es dann erst einmal vorbei mit der Beschaulichkeit, weil plötzlich alles sehr schnell ging. Mein Koffer kreiste bereits auf dem Band – keine Ahnung, wie viele Runden schon -, als wir mit dem Shuttlebus  am Flughafengebäude anlangten. Und der Taxifahrer raste mit mir los, als seien wir auf der Flucht. Kurz darauf stand ich vor meinem Hotel, dem Justus, mitten in den engen Gassen der Altstadt von Riga. Eine gute Wahl, wie ich sofort feststellte. Fast tut es mir leid, dass ich nur eine Nacht bleibe, denn das Hotel ist wunderschön mit Sichtmauerwerk – sogar in meinem Zimmer -, vielen alten Möbeln und Fotos aus den Zwanzigern. Gut, dass ich vor dem Rückflug eine weitere Nacht hier verbringen werde.

Mein erster Eindruck von Riga ist der einer ausgesprochen lebendigen und sehr jungen Stadt mit viel historischer Architektur. Die Straßen sind voller Menschen, die den warmen Sommerabend genießen. So lebendig stelle ich mir die französische Hauptstadt zu Beginn des letzten Jahrhunderts vor und es wundert mich nicht, dass Riga das Paris des Nordens genannt wird. Auch wenn ich solche Vergleiche eigentlich nicht mag, weil sie das Verglichene auf den zweiten Platz verweisen gegenüber dem Original. Und das hätte Riga eindeutig nicht verdient. Die Altstadt ist seit 1997 UNESCO-Weltkulturerbe. Gern hätte ich heute Abend noch mehr davon gesehen und wäre länger durch das berühmte Jugendstilviertel flaniert, doch ein plötzlicher und genauso heftiger Regen – auch der Regen ist hier unglaublich schnell – fegte mich in eins der vielen gemütlichen Restaurants, die in der Altstadt die Straßen säumen. Ich hatte ohnehin Hunger.

Morgen Vormittag geht es schon weiter an die Kurische Nehrung.

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Weiter Himmel, weites Land

29. Juli 2015

Die Fahrt von Riga nach Klaipeda war lang und sie führte einige hundert Kilometer über schnurgerade Straßen. Je weiter ich nach Süden kam, umso hügeliger wurde die zunächst flache, grüne Landschaft. Hinter Kelmé ging es dann Richtung Westen. Plötzlich kam die Sonne heraus und ließ schon im Vorfeld erahnen, wie schön es an der Küste sein muss. Klaipeda ist die drittgrößte litauische Stadt mit 184.000 Einwohnern und Litauens Tor zur Welt. Sie hat eine sehr wechselvolle Geschichte und galt 1808/09 als die provisorische Hauptstadt Preußens, nachdem Napoleon Berlin erobert hatte. Das alles ist sehr lange her. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hat hier nun Eduard von Keyserling gelebt, gestern Abend habe ich noch seinen Roman “Wellen” gelesen. Es ist wunderbar, wie der Autor die Gesellschaftsregeln des damaligen Adels, dem er selbst angehörte, auf die Schippe nimmt. Leider scheitern seine Figuren meist, die der alten Ordnung zuwider handeln. Apropos alt: Hier im Euterpe findet heute Abend offenbar ein Oldtimer-Treffen statt – der hoteleigene Parkplatz ist voller wunderschöner englischer und deutscher Modelle aus den Fünfziger- bis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Mit anderen Worten: Ich bin genau richtig.

Ein paar Stunden später …

Gerade habe ich noch eine große Runde durch das abendliche Klaipeda gedreht – nach einem Abendessen in einem Pavillon in der schönen Altstadt. Dort stand der Brunnen mit der Skulptur des Ännchens von Tharau von Simon Dach. Es lag sicher nicht nur am leichten Dämmerlicht, dass mir die kleinen Straßen und Gassen, die zwischen den wunderschön restaurierten alten Häusern hindurchführen, erschienen, als läge ein Zauber auf ihnen. Und bestimmt auch nicht an dem Glas Weißwein, das ich mir zum Essen genehmigt habe 🙂. Ein ganzes Stück bin ich noch am Ufer der Dane entlangspaziert, die ins Kurische Haff mündet. Dort lag auch das 1948 in Finnland gebaute Segelschulschiff Meridianas vor Anker.

Am nächsten Morgen …

Beim Frühstück traf ich auf die Oldtimerfans, eine Gruppe von fünf oder mehr Paaren. Ihrer Sprache nach zu urteilen, kommen sie ebenfalls aus Westfalen. Einen Moment beneidete ich sie um ihre Fahrt in den schönen alten Autos. Dann hörte ich zufällig, wie einer aus der Gruppe erzählte, dass er während des nächtlichen Gewitters mehrmals an seinem Auto war, um sich zu vergewissern, dass das Verdeck auch dicht halte, während ein anderer Oldtimerfahrer in die Runde fragte, wer denn nun mit ihm in die Werkstatt komme.

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Im Land der Störche

30. Juli 2015

Sie stehen sogar auf den schmalen Seitenstreifen der Autobahnen. Die Rede ist von den Störchen in Litauen. Fährt man über Land, sieht man sie alle paar Kilometer. Manchmal stehen sie am Rand der Fahrbahn, als würden sie über irgendetwas sinnieren, und manchmal segeln sie dicht über der Landschaft oder den fahrenden Autos. Die Straße scheint auf sie eine große Anziehungskraft auszuüben. Gut, dass der Verkehr auf den weiten Strecken hier so entspannt und ruhig rollt. Da könnte man den großen Vögeln zur Not rechtzeitig ausweichen. Ich hätte nie geglaubt, dass es so angenehm sein kann, langsam zu fahren. Doch wenn es alle tun … Auch ansonsten finde ich es ausgesprochen schön, Gast in diesem Land zu sein, und ich bedauere, dass ich Litauen dieses Mal nur im ‘Schnelldurchlauf’ kennenlerne. Da gibt es noch so viel zu entdecken. Neben den bekannten Landschaften und Sehenswürdigkeiten auch die kleineren Dinge am Rande. Wie den Berg der Kreuze bei Siauliai, ein neun Meter hoher Hügel mit unzähligen Kreuzen darauf, aufgestellt zum Gedenken der im Kampf Gefallenen und Ausdruck  eines ausgeprägten nationalen Unabhängigkeitswillens.

Jetzt kommt noch Vilnius, bevor es weiter geht auf meiner Reise nach Tallinn …

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Er träumte von einem Wolf

31. Juli 2015

Die Legende sagt, dass Großfürst Gediminas (1316-1341), als er im Gebiet des heutigen Vilnius war, von einem Wolf träumte, der besonders laut heulte. Und weil der Wolf für die Menschen damals Macht und Ruhm symbolisierte, riet der Traumdeuter dem Großfürsten, sich hier niederzulassen. Was immer Gediminas bewogen haben mag, an dieser Stelle zu siedeln, sei es die direkte Nähe zu den Flüssen Neris und Vilnia oder der Glaube an die Worte des Traumdeuters, er gründete die Stadt Vilnius und verlegte schon 1320 seinen eigenen Wohnsitz hierher. 1579 wurde die Universität gegründet, deren Studenten auch heute noch zum besonderen Charakter dieser jungen, alten Stadt beitragen. Doch von seiner Gründung bis zum heutigen Tage erlebte Vilnius eine sehr wechselvolle Geschichte, wurde mehrfach fast völlig zerstört, durchlitt Pest, Hunger und immer wieder Besetzung und stand doch jedes Mal wieder auf.

Seit Beginn der Neunzigerjahre wurde die Altstadt – geprägt durch ihre Barockarchitektur – wunderschön restauriert und gehört bereits seit 1994 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Menschen und Architektur strahlen Lebendigkeit, Offenheit und Eleganz aus. Und Fröhlichkeit. So führte ein Vater mit seinen Kindern mitten in einer Einkaufsstraße ein Tänzchen auf, eine halbe Stunde später zog eine Gruppe Hare-Krishna-Anhänger singend und ebenfalls tanzend an mir vorbei. Ihr Umfeld nahm es gelassen hin, nur ein paar Touristen – darunter auch ich – schauten den Singenden interessiert hinterher. Kurz gesagt, es macht Freude, in Vilnius zu sein. Und wann immer ich Hilfe brauche, bekomme ich sie, freundlich, schnell und unkompliziert. Nur ein Beispiel: Ich hatte in einer Herrenboutique nach dem Weg zu meinem Hotel gefragt. (Dieses liegt versteckt in einer mittelalterlichen Gasse, die mit dem Auto nur schwierig zu erreichen ist.) Der junge Mann bot mir an, die Karte mit dem markierten Weg zum Hotel auszudrucken. Dafür musste er jedoch seinen Laden verlassen – in dem sich Kunden befanden -, um im Büro seinen Laptop an den Drucker anschließen zu können. Für ihn eine Selbstverständlichkeit.

Die Stadt bietet eine unglaubliche Vielfalt an schönen Cafés, die nicht nur die Touristen rege nutzen. Besonders gefallen mir die einfachen Coffee Inns, weil sie häufig gepaart mit Buchläden daherkommen. Natürlich hat heute jeder größere Buchladen ein Café im Hause, doch hier nehmen beide Bereiche gleich viel Raum ein und sind ein guter Treff für Studenten und Touris wie mich. Nachdem ich die Stadt heute Vormittag erst einmal zu Fuß erkundet habe – Gediminashügel mit Burg, Kathedrale und Tor der Morgenröte inklusive – entschloss ich mich mittags spontan zu einer Stadtrundfahrt mit dem Bus. Eine gute Entscheidung, denn ich stellte fest, dass ich alle Sehenswürdigkeiten bereits von meiner Anreise am Tag zuvor kannte, diese bei meiner Suche nach dem Hotel sogar mehrfach umrundet hatte, sie jedoch nicht hätte benennen können. Dieses Defizit wurde im Laufe der City Guide Tour beglichen. Nach der Busfahrt entschied ich mich zu einem Besuch im ‘Museum für die Opfer des Genozids’. Das große graue Gebäude aus dem 19. Jahrhundert steht auf dem Gedimino-Prospekt, der Prachtstraße von Vilnius, die mit jedem Machthaber ihren Namen hatte wechseln müssen. In dem Gebäude hatte sich während der deutschen Besatzung die Gestapo niedergelassen, anschließend war der sowjetische Geheimdienst eingezogen. Im Keller sind 22 ehemalige Gefängniszellen zu besichtigen – ein zutiefst bedrückender Ort. Ich war lange dort unten und der anschließende Wechsel in die Fröhlichkeit dieser lebendigen Stadt ist mir nicht leicht gefallen.

Zum Abschluss noch ein Tipp in Sachen Übernachtung: Durch Zufall bin ich im Shakespeare Boutique Hotel in einer der ältesten Straßen von Vilnius gelandet. Erst nach der Buchung bemerkte ich, dass mein Reiseführer das Hotel als Top-Tipp ausweist. Dem kann ich nur zustimmen: Mein Zimmer ist im romantisch-englischen Landhausstil eingerichtet, die Zimmer sind nicht nummeriert, sondern nach berühmten englischen Schriftstellern benannt, überall befinden sich Sitzgruppen mit bequemen Sesseln und gefrühstückt wird – nach persönlicher Bestellung – in einer im englischen Adelsstil ausgestatteten Bibliothek. Traumhaft. Und nein, das Hotel gehört nicht zu den teuersten der Stadt.

Morgen geht es weiter nach Sigulda in der Nähe von Riga. Ich freue mich auf die weitere Reise, doch ich verlasse Litauen nicht gern. Dieses Land und seine Menschen habe ich in den vergangenen drei Tagen in mein Herz geschlossen.

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Rosen von Lettland

  1. August 2015

Wieder ein langer Tag auf der Straße. Mittags dann ein Zwischenstopp am Barockschloss Rundale bei Bauska, errichtet 1735-40 und für Barockliebhaber ein absolutes Muss. Ich war mehr als zwei Stunden dort, denn außer dem prachtvollen Innenleben weist dieses Schloss noch eine riesige Gartenanlage im französischen Stil auf mit langen Bogengängen, Brunnen, Pavillons und einem grünen Theater, in dem verschachtelte Hecken die Kulissen bilden. Zehn Hektar groß ist der rekonstruierte Barockgartenteil der Schlossanlage. Im vorderen Teil ist ein prächtiger Rosengarten, während dahinter die unterschiedlich gestalteten Gartenzimmer liegen. Für ein noch tieferes Eintauchen ins Barockzeitalter können sich kleine und große Mädchen am Gartentor Rokokogewänder ausleihen. Leider fehlte mir zu solchem Lustwandeln die Zeit, denn meine Fahrt ging anschließend noch weiter nach Sigulda, einem 12.000-Einwohner-Ort im größten Naturschutzgebiet des Baltikums, dem Gauja-Nationalpark. Einen Eindruck davon habe ich schon während der Fahrt bekommen. Die Landschaft bekam mit wachsender Entfernung zu Vilnius einen eher skandinavischen Charakter. Der spiegelt sich auch in meinem heutigen Hotel wider, dem Aparjods, das aus mehreren reet- und schiefergedeckten Holzhäusern in einer schönen Gartenanlage besteht. (Unglaublich, dass die Nacht hier unter 40 Euro kostet.) Eins der Holzhäuser ist das Restaurant, innen liebevoll ausgestattet mit einer Sammlung schöner alter Stühle und einem gemütlichen Kamin. Ein Ort zum Wohlfühlen. Obwohl es hier eher einsam ist, war dieses Restaurant so gut besucht, dass ich eine halbe Stunde an der Bar warten musste, bis ich endlich einen freien Tisch bekam. Leider musste ich dann allein essen. Gestern Abend habe ich in Vilnius im Restaurant zwei Neuseeländer kennengelernt, mit denen das Essen deutlich kurzweiliger war.

Eigentlich habe ich mir Sigulda nur ausgesucht, weil der Ort auf halber Strecke zwischen Vilnius und Tallinn liegt – die gesamte Strecke wäre mir zu lang für eine Tagestour gewesen – doch dann stieß ich auf eine Geschichte, die sich 1620 hier wirklich zugetragen haben soll, und mein Interesse an einer näheren, wenn auch nur kurzen Erkundung war geweckt. Es ist die Geschichte der Rose von Turaida:

Das Mädchen Maija wächst in der Burg von Turaida auf, die ganz in der Nähe von Sigulda liegt. Weil Maija sehr schön ist, wird sie die Rose von Turaida genannt. Ihre Schönheit lockt viele Männer an, doch die Rose von Turaida liebt den Gärtner Viktor, der ihre Liebe erwidert. Die beiden treffen sich regelmäßig in der Gutmannshöhle, in der Nähe der Burg. Als der Offizier Jakubovski dem Mädchen einen Heiratsantrag macht, wird er von Maija zurückgewiesen. Daraufhin lockt der Offizier sie durch eine Lüge in die Gutmannshöhle und bedrängt sie dort. Maija versucht sich zu retten, indem sie dem Mann ihr Halstuch anbietet, denn dieses mache seinen Träger unverwundbar. Zum Beweis hält sie ihm ihren Hals mit dem Tuch hin und bittet den Offizier, die Wahrheit ihrer Worte zu prüfen. Der Mann zieht sein Schwert und köpft Maija. Unklar ist, ob Maija wirklich an die Zauberkraft des Halstuchs glaubte, oder ihre Ehre retten wollte. Der Verdacht des Mordes fällt zunächst auf Viktor, doch schließlich kann die Unschuld des Gärtners bewiesen werden. Der wirkliche Mörder wird mit dem Tode bestraft. Viktor begräbt seine Geliebte bei der Burg Turaida und pflanzt auf ihr Grab eine Linde. Zu diesem Baum – oder seinem Nachfolger – pilgern bis heute Liebes- und Brautpaare. Apropos Brautpaare, heute habe ich mindestens zehn gesehen. Mal schauen, wie viele morgen um die Linde stehen.

Nach meinem Besuch auf der Burg von Turaida fahre ich auf der Via Baltica entlang der Rigaer Bucht weiter nach Norden. Zum Ziel meiner Reise.

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‚In the North‘

2. August 2015

Der Nationalpark Gauja hat mich heute Vormittag drei Stunden lang festgehalten. Natürlich war ich bei der Gutmannshöhle, deren Namensgeber ein Einsiedler ist, der im Mittelalter mit dem kühlen Quellwasser aus der Höhle Menschen geheilt haben soll. Und ich war beim Skulpturenpark und der Burg von Turaida. Alle diese Sehenswürdigkeiten sind touristisch ausgesprochen gut erschlossen, was der einmalig schönen Natur um den Fluss Gauja etwas von ihrer Wildheit nimmt. Doch jenseits dieser Sehenswürdigkeiten ist sofort wieder Natur pur. Und keine Reisegruppe. Eineinhalb Stunden bin ich fast allein an der Gauja entlang gewandert – ein Erlebnis der besonderen Art.

Hätte ich gewusst, dass die Fahrt nach Tallinn über eine Entfernung von rund 300 Kilometern ausschließlich über eine zweispurige Straße mit vielen Baustellen, Radfahrern und sogar Fußgängern führt, hätte ich meine Vormittags-Wanderung sicher abgekürzt. Bisher war ich nur die entspannten, vierspurigen Überlandstraßen des Baltikums gewöhnt. Doch die Landschaft aus unendlich scheinenden Wäldern rechts und links der Straße sowie den gigantischen Wolkengemälden am Himmel war natürlich traumhaft schön. Und sie vermittelte trotz der langen Wartezeiten vor den Baustellenampeln ein Gefühl von Freiheit. (Zurück nach Riga werde ich dennoch über Tartu fahren, auch, wenn dies ein deutlicher Umweg ist.) Nachdem ich die Grenze von Estland überquert hatte, hörten die Baustellen schlagartig auf. Was jedoch blieb, waren die vielen Blitzkisten neben der Fahrbahn, die typisch für alle drei baltischen Staaten sind. ‘Automaatkontroll’ heißt das hier in Estland. Den Kameras zur Seite steht alle paar Kilometer die ‘Politsei’, deren Beamten einem zielsicher die Laserpistole entgegen halten. Ich glaube, ich bin nicht ‘getroffen’ worden. Die Höchstgeschwindigkeit auf Landstraßen beträgt in Estland 90 Stundenkilometer. Am Ende einer Kleinstadt entschied ich mich zu einem Tankstopp. Ich fuhr die Zapfsäule an, steckte den Zapfhahn in den Tank und drückte wie gewohnt den Hebel. Nichts tat sich. Ich drückte erneut – wieder nichts. Ich hängte den Zapfhahn zurück und versuchte es noch einmal – vielleicht klemmte irgendein Mechanismus. Doch es tat sich noch immer nichts. Weitere drei erfolglose Versuche später betrat ich entnervt den Verkaufsraum der Tankstelle und wurde von zwei grinsenden Gesichtern begrüßt. “I want to refuel, but it doesn’t work!”, rief ich ihnen ungehalten entgegen. “We know. You have to pay first, then you can fill your tank”, erwiderte die junge Frau hinter der Theke ausgesprochen amüsiert. Nachdem ich ihr energisch erwidert hatte, dass ich nicht wüsste, wie viel das Tankauffüllen koste, meinte sie noch immer grinsend: “Okay, you can fill your tank first and pay afterwards.” Offenbar sah ich ausreichend vertrauenswürdig aus.

Das Finden meines Hotels in Tallinn war erstaunlich einfach. Ich habe für drei Nächte ein Zimmer in einer bekannten Hotelkette gebucht. Mein Glück ist, dass diese Kette ihre Häuser gern in die Höhe baut. Darum gehört mein Hotel zu einem der modernen, hohen Türme von Tallinn. Und ganz oben steht weithin sichtbar der Name des Hotels. Es war das erste Mal, dass mich der Anblick dieser Architektur wirklich erfreut hat.

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Hitze, Meer und Viel Vergangenheit

4. August 2015

Es ist heiß im Baltikum. Seit zwei Tagen ist der Sommer da. Tallinns Altstadt ist Mittelalter pur, insgesamt eine traumhaft schöne Stadt und mein absoluter Favorit unter den baltischen Hauptstädten. Die drei Tage hier sind viel zu schnell vergangen, es gibt noch so viel jenseits der üblichen Touristenpfade zu entdecken. Zum Beispiel die sehr aktive Künstlerszene. Jeden Abend habe ich an einem der Orte in der Stadt verbracht, von denen aus man einen schönen Blick auf das meist spiegelglatte Meer hat. Und überall in den Gassen gibt es ‚Suveniirid‘: aus baltischem Bernstein, Leder, Wolle oder Leinen. Meist konnte ich widerstehen, aber nicht immer. Mein Gepäck wird immer schwerer. Dafür fühle ich selbst mich leichter, seit ich hier bin.

Von meinem Hotelfenster aus – im 10. Stock – kann ich das Meer sehen. Und den Ort, an dem mein Großvater beerdigt liegt. Ich kann kaum glauben, dass ich in diesem riesigen Turm ausgerechnet ein Zimmer bekommen habe, dass zwischen den anderen hohen Türmen dieses Stadtteils die schmale Sicht auf die Kriegsgräberstätte freigibt. Als bräuchte es noch eines Beweises, dass diese Reise richtig ist. Gestern war ich nun endlich dort, in Reval-Marienberg oder Tallinn-Maarjamäe, wie es heute in der Landessprache heißt. Ich war seltsam aufgeregt, als ich mit meinem Blumenstrauß in der Hand neben dem Taxifahrer saß. Die Fahrt führte immer am Meer entlang und endete auf einem erhöht liegenden riesigen Areal. Der Taxifahrer deutete auf den Teil der Gedenkstätte, auf dem die deutschen Soldaten beerdigt liegen. Ich nahm dennoch zunächst den Weg über den russischen Teil des Friedhofs, vorbei an Gedenktafeln in kyrillischer Sprache, bis ich schließlich vor dem 5,5 Meter hohen Hochkreuz stand, davor 24 liegende Tafeln mit den alphabetisch sortierten Namen, Geburts- und Sterbedaten von insgesamt 2.156 deutschen Soldaten. Der Name meines Großvaters steht in der Mitte der zweiten Tafel, sein Nachname beginnt mit einem B. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat dieses Gräberfeld gestaltet und 1998 eingeweiht. Leider konnten die Einzelgräber nicht mehr rekonstruiert werden, da der Friedhof nach dem Krieg eingeebnet worden war. Doch die Gräberfelder konnten ausfindig gemacht werden und sind nun durch Kreuzgruppen kenntlich. Baumgruppen nehmen dem Ort die Strenge. Nördlich in diesen Friedhof ragt der sowjetische Maarjamäe-Memorialkomplex. Beide Teile der Anlage bilden eine Einheit. Es ist ein friedlicher, schöner und sehr lebendiger Ort. Man kann von dort auf das Meer und die vorbeifahrenden Schiffe sehen. In direkter Nachbarschaft befinden sich Wohnhäuser mit Gärten.

Während ich bei den Gedenktafeln saß, kamen Spaziergänger, Radfahrer und Jogger vorbei. Und eine Mutter mit drei kleinen Kindern. Das älteste Mädchen fuhr mit seinem Roller vor die Tafeln, hielt direkt vor der mit dem Namen meines Großvaters und schaute verwundert auf den Blumenstrauß. Und da fiel mir plötzlich ein, dass mein Großvater in seinem vorletzten Brief geschrieben hat, wie sehr er sich freue, seine kleine Tochter auf dem Roller zu schieben. Beim nächsten Wiedersehen. Und dass er mit Sorge und Spannung der Geburt seines zweiten Kindes entgegensehe. „Möge uns alles Gute zur Seite stehen …“. Und: „Ich freue mich ja so auf ein Wiedersehen!“ Sein letzter erhaltener Brief ist vom 30. Oktober 1943. Am 4. November wurde mein Großvater morgens bei einem Angriff auf See schwer verwundet und verstarb noch am selben Tag in einem finnischen Krankenhaus. Die Berichte, ob er noch einmal zu Bewusstsein kam und die am selben Tag eingetroffene Nachricht von der Geburt seines Sohnes wahrnehmen konnte, widersprechen sich. Mein Großvater wurde auf den Tag genau 30 Jahre alt.

Mein Hotel liegt in der Nähe des ehemaligen Armenhauses des heiligen Johannes, seit 1237 eine besondere Einrichtung, die im Mittelalter nicht nur den Armen der Stadt Hilfe bot, sondern auch verschiedene andere Funktionen erfüllte. (Die hohen, glänzenden Türme unserer Tage sind jedoch sehr weit von einem Armenhaus entfernt.) Dass der Gründer dieser frühen sozialen Einrichtung Johannes hieß, freut mich besonders, denn Johannes war auch der Vorname meines Großvaters. Dazu gibt es in Tallinn noch einen Wehrturm mit Namen ‚Margareeta‘. Margareta ist der Name meiner Großmutter. Natürlich sind mit dieser alten Hansestadt viele weitere Namen verknüpft, dennoch schön, dass Johannes und Margareta darunter sind.

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Ein Hauch von „Good Bye Lenin“

5. August 2015

Ich bin wieder in der Millionenmetropole Riga. Der Weg zurück ging wie geplant über Tartu, die zweitgrößte Stadt Estlands mit einer bekannten Universität. Jenseits der Großstadt konnte ich noch einmal die Weite der Landschaft und die schönen Wälder genießen.

Dank ‚hop on – hop off‘ bei den Sightseeing-Touren konnte ich an meinem letzten Tag gestern in Tallinn einen weiteren Besuch am Friedhof bei meinem Großvater mit einem Abstecher zum Maarjamäe-Schloss verbinden. Beides liegt in direkter Nachbarschaft zueinander. Dort wird eine Ausstellung zur Geschichte Estlands gezeigt, die richtig schön sein soll. Als ich das Schloss betreten wollte, war die Tür jedoch verschlossen. Ein kleines Schild daneben informierte, dass die Ausstellung nur an zwei Tagen der Woche zu besichtigen sei. Schade, dass mein Reiseführer diese Info nicht hatte. Eine russische Familie war nach mir ebenfalls vergeblich auf die Schlosstür zugeeilt, und entschied sich schließlich, direkt zur Kriegsgräberstätte zu gehen.

Doch ich entdeckte neben dem Schloss ein kleines, offenes Tor. Kurzentschlossen schritt ich hindurch – die letzten Tage allein auf Reisen haben mich mutiger gemacht – und folgte einem kleinen, sehr privaten Pfad. Keine Ahnung, was ich dort suchte, vielleicht einen schönen Schlossgarten, aber ganz bestimmt nicht das, was ich dann vorfand. Als ich nämlich hinter das Gebäude sehen konnte, verschlug es mir regelrecht die Sprache: Hier lag eine ganze Sammlung überlebensgroßer Skulpturen aus Metall und Stein. Ein Soldat trug seinen Helm in der Hand und blickte auf seine Beine, die vor seinem Oberkörper standen. Die Skulptur war in der Mitte getrennt worden und nun standen beide Körperhälften nebeneinander. Riesige, selbstbewusst dreinblickende Metall- oder Steinköpfe standen oder lagen losgelöst von ihrem Körper herum, während Büsche und Gräser neben ihnen hervorsprießten. Die Szenerie hatte wirklich etwas Unheimliches und Surreales.

Am meisten erschrak ich jedoch, als ich einen Mann aus Fleisch und Blut ebenfalls am Boden liegen sah. Erst beim zweiten Hinsehen entdeckte ich die Profi-Fotoausrüstung neben ihm. Er war gerade dabei, die Skulpturen ‚Auge in Auge‘ abzulichten. Als er mich sah, sprach er mich in der Landessprache an. Als er mein Englisch hörte, passte er sich sprachlich an und fragte, ob ich bemerkt habe, dass die Figuren allesamt Personen der sowjetischen Vergangenheit darstellten und im neorealistischen Stil gestaltet seien. Die Skulpturen seien nach 1991 von ihren ursprünglichen Plätzen entfernt worden und würden nun hier ‚gelagert‘. Unglaubliche Perspektiven für einen Fotografen, meinte er und knipste begeistert weiter. Dann fragte er mich, woher ich komme und ich erzählte ihm ein wenig. Mein Großvater liege nebenan begraben, schloss ich und er erwiderte: „And here lies Stalin.“ Und dann begab er sich wieder in die liegende Position, um der besagten Skulptur mit dem Fotoapparat zu begegnen. Situationskomik pur.

Bei der Kriegsgräberstätte begegnete ich noch einmal der russischen Familie. Gemeinsam saßen wir vor den Gräbern und blickten auf das Meer hinaus, bis schließlich der Bus kam und uns wieder mitnahm.

Dies ist der letzte Beitrag der Reise zu meinem Großvater, doch ich werde bestimmt wiederkommen ins Baltikum! Ich bedanke mich sehr herzlich bei allen, die über diesen Blog meine Reise verfolgt haben. Darüber habe ich mich sehr gefreut – ganz besonders über die lieben Kommentare! Ich wollte diese Reise unbedingt allein machen, doch irgendwie ward ihr auf diese Weise immer dabei und ich habe mich zu keinem Zeitpunkt einsam gefühlt. Herzlichen Dank dafür!