‚Lost‘ im Labyrinth: Die Tücken von Traquair House

Jeden Tag zwei Attraktionen. Mindestens. So lautet meine Vorgabe für diese Schottland-Reise. Bisher konnte ich sie problemlos umsetzen. Darum war ich auch heute Morgen zuversichtlich, an diesem Tag das märchenhafte Moffat Water Valley wiederzusehen und auf dem Weg dorthin noch Traquair House kennenzulernen.
Denn dies ist das älteste kontinuierlich bewohnte Herrenhaus Schottlands. Und das seit tausend Jahren, wie mir das Video im kühlen Kellergewölbe des eindrucksvollen Landsitzes erzählt. Weil das ursprünglich deutlich kleinere Haus immer wieder verändert und erweitert wurde, stammt ein Großteil des jetzigen Baus aus dem 17. Jahrhundert. Mag sein, dass die ständige Anwesenheit der Familie der Grund ist, dass sich über all die Jahrhunderte kein einziger Geist in dem Gemäuer eingefunden hat. Was schon sehr ungewöhnlich ist für ein schottisches Schloss. Und ziemlich enttäuschend für die Besucher, die in froher Erwartung auf eine schöne Schauergeschichte herbeiströmen. Um diesen Makel wett zu machen, hat die heutige Besitzerin ein kleines Gruselkabinett in einem der Kellerräume eingerichtet. Der Raum ist mit allerlei Spuk-Utensilien bestückt und wird von einer lebensgroßen, in einem Schaukelstuhl sitzenden Frauenfigur dominiert. Da die Dame dem Betrachter den Rücken zuwendet, hat das etwas von Bate’s Motel aus dem Hitchcock-Thriller Psycho.
Eine Etage höher erfahre ich jedoch, dass das Haus nicht ganz so ‚geistlos‘ ist, wie zuvor behauptet. So soll ein Mitarbeiter an einem nebeligen Morgen im Schlossgarten eine Frau gesichtet haben, die über die Wege wandelte. Der Mann erkannte in ihr eine frühere Angestellte. Bis hierhin nichts Ungewöhnliches, abgesehen von der Tatsache, dass die Frau zu diesem Zeitpunkt schon verstorben war. Nicht überliefert ist, ob der Beobachter gerade aus der hausinternen Brauerei kam, wo er vielleicht zu reichlich vom Selbstgebrauten gekostet hatte. Doch das ist nur meine persönliche Vermutung.

Traquair House diente seit dem 12. Jahrhundert als Jagdschloss der schottischen Könige. Auch Maria Stuart (1542-1587) und ihr Sohn waren hier zu Gast. Zeugnis davon legt unter anderem Handschriftliches der später zum Tode verurteilten schottischen Königin ab, das unter Glas zu besichtigen ist. Es ist noch immer gut zu entziffern.
Und es gibt eine weitere Historie. Im Jahr 1745 wurden die Eisentore am Haupttor zum Schloss hinter Charles Edward Stuart, Bonnie Prince Charlie, mit dem Schwur geschlossen, sie erst dann wieder zu öffnen, wenn ein Stuart den Thron besteigt. Der Schwur wird bis heute peinlichst gehalten, weshalb die Einfahrt nicht länger Einfahrt ist, sondern zur riesigen Rasenfläche umgestaltet wurde und ein neues Eingangstor an der Seite angelegt werden musste. Denn das ehemalige Haupttor ist tatsächlich seit 271 Jahren geschlossen geblieben.
Nach einem anregenden Gespräch mit einem Angestellten, der mir eine Handvoll Tipps für meine weitere Reise gibt (ich hoffe, es war nicht der Mann, der den Geist gesehen hat), kann ich es kaum erwarten, die wundervollen Gartenanlagen um Traquair House kennenzulernen. Jeder Gartenliebhaber kommt hier auf seine Kosten. Wie magisch angezogen fühle ich mich zuerst jedoch vom Labyrinth auf der Rückseite des Schlosses. Von oben sieht es auch gar nicht groß aus, sodass mir ein kleiner Abstecher durch die mindestens zwei Meter hohen Hecken ein schöner Auftakt für die Gartenbesichtigung zu sein scheint. Doch der Aufenthalt in diesem Labyrinth gestaltet sich deutlich länger und bewegungsreicher als geplant. Während ich die nicht enden wollenden Heckengassen entlanghaste und vor immer neue grüne Wände stoße, kommt mir ein Gedanke. Könnte es nicht sein, dass Traquair House über kein ordentliches Schlossgespenst verfügt, weil sich mögliche Anwärter in diesem Labyrinth verirrt haben? Ich bin sehr froh, als ich schließlich doch noch hier herausfinde. Über den Fools Exit. Egal, Hauptsache wieder draußen!
Für den übrigen Garten bleibt dann leider nicht mehr ganz so viel Zeit. Und auch die Essenspause im wunderschönen Cottage auf dem Schlossgelände ist weniger beschaulich als geplant. Dafür schaffe ich es im Moffat Water Valley noch bis zum Grey Mare’s Tail mit seinen für
die Lowlands doch ziemlich beeindruckenden Hügeln.
Und auf dem Rückweg reicht es sogar für einen Abstecher nach Selkirk, wo Sir Walter Scott einst als Sheriff und später als Richter tätig war. In der dortigen Waverley-Mill (wie sollte sie sonst heißen) der Firma Lochcarron kann ich dem charmanten Tea Room mitten im Verkaufsraum und dem Tweed nicht widerstehen. Und dieses Mal meine ich bestimmt nicht den Fluss.





Darum führt mich mein Weg zuerst nach Priorwood Garden. Hier ist es viel stiller als in der Abbey. Auf einer Bank zwischen Obstbäumen sitzend stelle ich mir vor, wie das Leben der Mönche hier wohl im 12. Jahrhundert verlaufen ist. Sie gehörten dem Orden der Zisterzienser an und ihr Tag war vermutlich von Gebeten und strengen Übungen geprägt. Unterstützung – vor allem bei den schweren körperlichen und anderen alltäglichen Arbeiten – erhielt der Orden von sogenannten Laienbrüdern. Ihnen war für den Gottesdienst der hintere Kirchenteil bestimmt. Die Laienbrüder kamen aus der nahen Umgebung, und fanden hier sichere Arbeit, Essen und eine Unterkunft.
Dieser Ururururenkel von König David I. kämpfte während des ersten schottischen Unabhängigkeitskriegs (1296-1328) als Anführer der aufständischen Schotten gegen England. Das Herz von Robert the Bruce wurde von einem Kreuzzug zurück nach Schottland gebracht. 1560 endete schließlich das mönchische Leben von Melrose aufgrund der Reformation.
Natürlich bin ich nach meinem Aufenthalt in Priorwood Garden endlich zur Abtei gegangen. Nach einem ausführlichen Gang durch das Innere der Ruine, einem Weg über den Friedhof mit den uralten Grabsteinen und einem Blick auf das Melrose-Schwein mit Dudelsack, einer Skulptur an der Außenseite des Gemäuers, habe ich schließlich noch das Commendator’s House aus dem Jahr 1590 auf dem Abtei-Gelände besucht. Dieses ist heute ein kleines Museum mit Exponaten, die rund um das Kloster gefunden wurden. Und dort konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, für ein paar Augenblicke selbst einmal Mönch, beziehungsweise Nonne zu sein.
Zum Abschluss bin ich noch einmal zur Abteiruine zurückgekehrt und die kleine Treppe zur engen Aussichtsplattform hoch oben neben den Zinnen gestiegen und habe den Blick in die umliegenden Eildon Hills
genossen. König Artus soll dort begraben liegen. Und gar nicht weit entfernt, in der Dryburgh Abbey, hat Sir Walter Scott, der schottische Schriftsteller, seine letzte Ruhe gefunden. In direkter Nähe zu seinem Wohnsitz Abbotsford House. Doch den Besuch dort hebe ich mir für einen anderen Tag auf …

Ich gebe zu, jetzt wäre ich lieber Beifahrerin und bräuchte nicht ständig auf die Straßen zu schauen. Waren die sonst auch schon so schmal? Egal, ich muss sie nehmen, wie sie sind.
Bis mein Blick auf ein kleines Holzhaus fällt, das etwas entfernt steht und an einen Western-Saloon erinnert. Wenn das nicht … Und wirklich, ich habe Glück! Es ist einer der vielen Tea Rooms (auch wenn sich dieser als Coffee House ausgibt), die überall in Schottland – ob in der Einsamkeit oder an belebten Orten – zu einer kurzen Pause einladen. Und sie kommen sehr unterschiedlich daher, mal mit dem rauen Charme der Wildnis, mal fein herausgeputzt mit Spitzenschmuck und ganz viel Deko, bei der man sich in eine Art Märchenland versetzt fühlt. Und manchmal sind sie sogar mitten in Verkaufsräumen. Bisweilen gehen die Erlöse aus den Tea Rooms auch an ein soziales Projekt. Doch gleichgültig, ob die Mitarbeiter ehrenamtlich hier arbeiten oder damit ihren Lebensunterhalt verdienen, man spürt, dass Gäste herzlich willkommen sind. Ich mag die Tea Rooms sehr.
Zumindest für die Dauer einer Kanne Regular Tea, womit der Frühstückstee gemeint ist, zumeist ein Verschnitt verschiedener Schwarzteesorten, in denen der Assam jedoch den Ton, beziehungsweise die Farbe angibt. Und weil die Teebeutel in der Kanne verbleiben und von Tasse zu Tasse das Getränk kräftiger und dunkler machen, gibt’s mancherorts noch ein Kännchen heißes Wasser zum Verdünnen dazu. Meiner Erfahrung nach vor allem in den Highlands und auf den Hebriden.
Bei den Tea Rooms kommt mir übrigens immer The Oven Door in Peebles in den Sinn. Der kleine Raum ist meistens gut besucht. Ich kenne ihn seit vielen Jahren und freue mich immer schon auf den leckeren Kuchen, der hier auf buntem Geschirr serviert wird. Natürlich war das mein erster Weg nach meiner gestrigen Ankunft …

Festivals rund um die Themen Jazz und Kunst weiß die Stadt außerdem zu feiern. Am bekanntesten ist wohl das Beltane-Festival zum Sommerbeginn, das in der 3. Juniwoche stattfindet und seine Wurzeln in der keltischen Mythologie und Religion hat. Vielleicht sollte ich für nächstes Jahr schon einmal für diesen Zeitraum buchen.
Apropos Kirche, auf einem Straßenschild lese ich Cross Kirk. Scots, eine westgermanische Sprache, die in den schottischen Lowlands, den Southern Uplands und in den Regionen um Glasgow und Edinburgh gesprochen wird, – nicht jedoch im ‚gälischen Schottland‘ der Highlands und Hebriden-Inseln – hört man hier nicht nur in der Aussprache, sondern findet es auch in der Schriftsprache – wie hier Blau auf Weiß. Scots ist übrigens nicht mit dem schottischen Englisch gleichzusetzen, der heutigen Amts- und Bildungssprache in Schottland, sondern eine eigene Sprache.
Mein erster Besuch in Peebles liegt inzwischen elf Jahre zurück. Damals erschien mir ein Ausflug in den gut 8.500 Einwohner zählenden Ort wie eine Fahrt in die große Stadt. Gemeinsam mit vier Bekannten genoss ich damals umgebende Natur und Einsamkeit in einem wunderschönen Ferienhaus in Drumelzier, einem Örtchen, das ebenfalls im Tal des Flusses Tweed und nur wenige Meilen von Peebles entfernt liegt. Direkt neben dem Haus plätscherte ein kleiner Bach und gleich dahinter stieg ein grüner Hügel an.
Doch als Alleinreisende ziehe ich diesmal die Geselligkeit in einem Hotel vor. Mit dem Mercure Peebles Baronet Castle Hotel habe ich Glück. Es sieht nicht nur von außen schön aus, es ist auch von innen ein Ort, an dem ich die nächsten fünf Tage verbringen will. Denn so lange werde ich mich in den Scottish Borders aufhalten, bevor es weitergeht in die Highlands. Nach einem ausgiebigen Abendessen im Hotelrestaurant mache ich mich auf den langen Weg durch viele enge Flure zurück in mein Zimmer. Die Böden und sogar die Treppen sind hier mit großkarierten Teppichen belegt. Und dann glaube ich einen Moment lang tatsächlich zu träumen. In einem der Flure kommt mir ein festlich gekleideter und sehr attraktiver Mann mit schwarzen Haaren, Bart, Jackett, Weste, Hemd und Schlips entgegen. Ich wage einen Blick auf den unteren Teil seiner Bekleidung, der aus einem grün-blau-karierten Kilt und farblich passenden Strümpfen, einem Sporran (Geldtasche), einem Gürtel mit auffallender Schnalle sowie dem Sgian Dubhs (Messer) im Strumpf besteht. Abgerundet wird die Bekleidung von den passenden Ghillies Brogues (Schuhen) mit den besonderen Lochmustern und den mehrfach um die Fesseln geschlungenen Schnüren. Bei diesem Anblick verschlägt es mir erst einmal die Sprache. Zum Glück ergreift der Mann das Wort und wir tauschen schließlich ein paar Höflichkeiten aus, während wir uns in dem zugegeben sehr engen Gang aneinander vorbei bewegen. Dabei stelle ich fest, dass der Mann sogar ein wunderschönes Lachen hat. Wird hier vielleicht ein Film gedreht und ich stehe gerade vor dem Helden der Geschichte? Einen Moment lang liegt mir tatsächlich die Frage auf der Zunge, ob ich vielleicht ein Foto von ihm … mein Handy wäre griffbereit. Doch dann sind wir zum Glück schon aneinander vorbei und ich habe mir diese Peinlichkeit erspart.
Ganz beschwingt erreiche ich mein Zimmer im dritten Stock, wo ich mich wie das Burgfräulein persönlich fühle und einen schönen Blick in den Schlossgarten habe. Und siehe da, das Rätsel löst sich. Dort unten versammeln sich gerade Gäste einer Hochzeitsfeier. Auch mein Held aus dem Gang trifft in diesem Moment ein. Und er ist nicht allein, denn als ich nun den Blick über die fröhliche Gesellschaft schweifen lasse, erkenne ich, dass mindestens ein Drittel der anwesenden Herren Kilt trägt. Ich bin wirklich wieder in Schottland …