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Die andere Geschichte von Wigtown

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Noch einmal kehre ich zurück in Schottlands ‚National Book Town‘. Doch die Bücher sind es nicht allein, die mich Wigtown so nachdrücklich in Erinnerung behalten lassen. Mehr noch sind es die Schicksale von fünf Menschen, die dort gelebt haben, beziehungsweise, gestorben sind.

Am 11. Mai 1685 standen zwei Frauen – beide hießen Margaret – angekettet an Holzpfeiler im Fluss Bladnoch, der damals direkt hinter Wigtown verlief. Sie waren zum Tode durch Ertrinken verurteilt, eine besonders grausame Form des Mordens, die hier nur an Frauen verübt wurde. Zeitlich nah wurden drei Männer – William Johnston, John McIlroy und George Walker – am selben Ort aus demselben Grund gehängt. Alle fünf Verurteilten hatten einen Treue-Eid auf den ‚National Covenant‘ geleistet, am Presbyterianismus festzuhalten. Und darauf stand Ende des 17. Jahrhunderts in Schottland die Todesstrafe.

Bereits 1638 hatten sich Mitglieder der presbyterianischen Kirche in Schottland mit einem Treue-Eid ihrer Kirche verpflichtet. Sie wurden als sogenannte Covenanters bezeichnet und verfolgt. Die presbyterianische Kirche sieht an oberster geistlicher Stelle Jesus Christus. Mit ihrem Schwur stellten sich die Gläubigen gegen die Bemühungen des Königs, die Verbreitung der anglikanischen Kirche, deren Oberhaupt der Monarch selbst ist (während das religiöse und innerkirchliche Oberhaupt der Erzbischof von Canterbury ist), auch in Schottland voranzutreiben. Die ‚Bemühungen‘ der Krone gipfelten 1684 schließlich in den ‚Killing Times‘. Covenanters, die ihrem Treue-Eid nicht offiziell abschworen, wurden von nun an streng verfolgt und zum Tode verurteilt.

Margaret (18 Jahre) und Agnes Wilson (13 Jahre) sowie ihre Brüder hatten diesen Schwur geleistet – im Gegensatz zu ihren Eltern, einem wohlhabenden Farmer-Ehepaar, das zur offiziell von England bestimmten Kirche gewechselt war und deren Gottesdienst regelmäßig in der Paris Church von Wigtown besuchte. Die älteren Söhne der Wilsons flohen nach Irland, doch die Töchter Margaret und Agnes sowie ihr jüngerer Bruder Thomas hatten sich in die Berge zurückgezogen, lebten dort versteckt bei Sympathisanten und nahmen an heimlichen Gottesdiensten ihrer Glaubensbrüder und -schwestern teil. Vater Wilson musste für den ‚Ungehorsam‘ seiner Kinder bezahlen – im wahrsten Sinne.

Als im Februar 1685 König Charles II. starb, hofften die Verfolgten auf entspanntere Zeiten. Die Schwestern kehrten zurück aus den Bergen und fanden Unterschlupf bei der Witwe Margaret McLachlan (63 Jahre) in einem kleinen Ort nahe Wigtown. Als sie es eines Tages wagten, in ihren Heimatort zu kommen, wurden sie von einem Nachbarn verraten. Es kam zur Verhandlung, bei der Margaret und Agnes Wilson sowie Margaret McLachlan schuldig gesprochen wurden.

Die dreizehnjährige Agnes konnte freigekauft werden, doch für die beiden anderen Frauen gab es keine Gnade. Die ältere Margaret wurde im tieferen Wasser festgekettet, sodass die Jüngere den qualvollen Tod, bei dem der Vollstrecker den Kopf der Frau gewaltsam unter das Wasser gedrückt haben soll, mitansehen musste, bevor das steigende Wasser des Flusses auch sie erreichte. Der Anblick des Todeskampfes sollte bewirken, dass die Jüngere ihren Schwur doch noch widerriefe. Stattdessen soll sie gesagt haben, dass es Jesus sei, der dort kämpfe, und aus der Bibel zitiert haben, bevor auch sie starb.

Die Reaktionen auf diese furchtbaren Ereignisse waren unterschiedlich. Zeitgenossen sollen die Ermordungen der beiden Frauen abgestritten haben, indem sie behaupteten, man habe sie kurz vor der Vollstreckung frei gelassen. Doch die Morde wurden von den Henkern genau dokumentiert und diese Berichte sind erhalten. Darin steht, wie standhaft beide Frauen in den Tod gingen. Auch, dass einer der Vollstrecker Margaret McLachlan hämisch zugerufen habe, sie solle noch einen Schluck auf ihn trinken. Legende hingegen ist wohl, dass dieser Mann für den Rest seines Lebens an unstillbarem Durst litt und aus jeder Pfütze und jedem schmutzigen Wasserloch trinken musste. Der Constable, der buchhalterisch genau und emotionslos die Ermordung angeordnet und begleitet hatte, soll gesagt haben, dass sich die Frauen kurz vor dem Tod wie Krabben und versehen mit Schwimmhäuten um den Holzpfahl gewunden und dabei gebetet haben. Angeblich sollen alle drei Kinder dieses Mannes mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern geboren worden sein.

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Ein Ort voller Bücher

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„Geboren wurde die Idee bereits vor 50 Jahren in Wales. Dann zogen andere Länder nach, Deutschland zum Beispiel. Und natürlich die Niederlande“, erläutert mir die humorvolle Frau in dem versteckt in einem Zaubergärtchen liegenden Buchladen in Wigtown. Es ist bereits der fünfte und einer ist skurriler und liebevoller gestaltet als der andere. Und noch längst habe ich nicht alle Buchläden hier besucht, denn Wigtown ist Schottlands ‚National Book Town‘.

20170520_124933„Zuerst gab es einen Wettbewerb“, erzählt die Frau lächelnd weiter. „Dabei konnte Wigtown überzeugen.“ Das war 1997 und der Ort vom Verfall bedroht. Industrie wie eine Destillerie und eine Molkerei gab es da schon längst nicht mehr in dem malerischen Städtchen am Wigtown Bay. Dass der heute knapp tausend Einwohner zählende Ort im Mittelalter sogar eine ‚Royal Burgh‘ und durch Pilgerreisende wohlhabend geworden war, schien in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts endgültig der Vergangenheit anzugehören.

Heute sollte, wer in Wigtown lebt, Bücher lieben. Denn in jedem Restaurant, 20170520_124302Tea Room und sogar in Gärtnereien und Second-Hand-Läden gibt es neben dem normalen Angebot Bücher Bücher Bücher. Insgesamt sollen es mehr als 250.000 sein. In alten und neuen Regalen ziehen sie sich durch alle Ladenlokale, die zumeist aus vielen kleinen Räumen bestehen. Wahre Schätze kann man hier entdecken, die meisten davon sind längst nicht mehr im normalen Buchhandel zu bekommen. Denn die Bücher von Wigtown sind antiquarisch und schon durch so manche Hand gegangen.

Im ‚Beltie Books and Café‘ gibt es neben Büchern selbst gemachte Kuchen und kleinere Speisen. Im Sommer steht den Gästen neben dem hellen und liebevoll eingerichteten Café auch ein Garten zur Verfügung. „So stelle ich mir das Paradies vor“, sage ich einem der beiden Besitzer, was bei diesem ein Lächeln hervorruft. Er wird es nicht zum ersten Mal hören.

20170520_130817Dann gibt es ‚The Bookshop‘, Schottlands größten Second-Hand-Buchladen. Auf den ersten Blick sieht er gar nicht so aus, und ich bin eher von den wertvollen alten Leder- und Leinen-Einbänden beeindruckt, die auf einer Ladenseite in hohen Regalen locken. Doch dann entdecke ich einen kleinen Gang und folge ihm immer tiefer hinein in das Gebäude. Ein Raum folgt dem nächsten, beinahe gleicht es einem Labyrinth. Und überall Buchregale, sogar neben den Treppen. Außerdem erwartet mich in jedem Raum eine neue Überraschung. Mal baumelt ein furchterregendes Skelett von der Decke, mal wartet ein Hochbett mit Leselampe darauf, dass ich mit ein paar Schmökern unter dem Arm die schmale Leiter erklimme. Eine Nische weiter vermitteln alte, bequeme Ledersessel vor einem Kamin Urgemütlichkeit. Sie bleiben nicht lange leer. Hier könnte ich Tage verbringen.

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Doch weil ich langsam Hunger bekomme, wechsle ich den Buchladen und gehe ein paar Häuser weiter ins ‚Glaisnock Café‘. Wieder viele Räume mit Bücherregalen. Und in jeder Ecke stehen Sessel, Sofas oder Stühle mit kleinen und größeren Tischen, an denen man sitzen, lesen und essen kann. Köstlich die ‚Soup of the day‘. Und erst die Kuchen an der Theke, die ich vor lauter Büchern erst auf den zweiten Blick entdecke. Ich entscheide mich für einen Schokoladenkuchen mit weichem Kern und Ingwerstückchen. Dazu eine große Kanne Tee. Nun möchte ich wirklich nicht mehr gehen. Dummerweise entdecke ich im Regal gegenüber auch noch einen kleinen Band mit den witzig beschriebenen Erinnerungen einer englischen Lady im viktorianischen Zeitalter.

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Ich lese mich fest und will das Buch natürlich kaufen. Und so wandert es später in die Tasche zu den anderen, die ich heute bereits in Wigtown erstanden habe. Manches ist darunter zur Geschichte der Jakobitenaufstände, was ich noch nicht kenne. Irgendwann kommt mir das Gewicht meines Koffers in den Sinn – viel zu spät – und ich verlasse doch endlich das Buch-Café. Ich werde wiederkommen in diesen Ort. Vielleicht zu einem der jährlich stattfindenden Buch-Festivals.