An einem Ort voller Mythen und Sagen
… spielt der Auftakt meiner neuen Windsbraut-Serie mit dem Titel Walpurgistage. Nämlich in Zittau in der Oberlausitz. Diese hat ihre eigenen Sagen zur Walpurgisnacht, denen ich an vielen Orten der Region nachgespürt habe. Eine Hexe ist mir dabei allerdings nicht begegnet. Zauber hingegen schon. Nämlich der einer wunderschönen Landschaft und kleiner Orte. Mit anderen Worten, die Recherche zu diesem Buch hat mir wieder einmal viel Freude bereitet. Und da darf natürlich auch meine Lieblingsstadt Berlin nicht fehlen. Sie wird ein Handlungsort bei den folgenden Windsbrautgeschichten bleiben.
In der ersten Geschichte geht es um eine große Liebe, um einen bitteren Verrat und um Freundschaft, wie auch der Klappentext verrät:
In Neles Leben läuft gerade nichts wie es soll. Ihr kleiner Modeladen in Berlin steht kurz vor der Pleite. Und ihr Freund ist nun ihr Ex-Freund, nachdem Nele ihn mit einer anderen Frau erwischt hat. Als sie an diesem Morgen in die Oberlausitz fährt, sehnt sie sich nach ein paar Tagen Ruhe mit ihrem Bruder und dessen Frau. Doch es kommt anders.
Auf der Hinfahrt lernt sie Daria kennen. Die lebhafte junge Frau ist Nele auf Anhieb sympathisch. Ebenso deren geschäftstüchtige und umtriebige Großmutter Mathilde, mit der Daria in Zittau eine Apotheke führt. Daria steht kurz vor der Hochzeit mit Simon, doch über ihrem Glück ziehen Gewitterwolken auf. Dann taucht noch unerwartet der attraktive Journalist Emanuel auf, den Nele schon aus Berlin kennt, und sorgt für neue Unruhe. Vor allem bei Nele, die den Mann vor einem furchtbaren Unfall bewahrt. Und da ist noch diese mysteriöse alte Frau, die wie aus der Zeit gefallen zu sein scheint. In der Walpurgisnacht, in der nach altem Volksglauben die Dämonen mit einem großen Feuer vertrieben werden, kommt es zur Katastrophe. Und plötzlich ist nichts mehr, wie es war.
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Das Mythische, Geheimnisvolle sorgt in der Geschichte für manchen Gänsehaut-Moment, wie auch die folgende Leseprobe erahnen lässt:
„Die Alte fand heute keine Ruhe an ihrem Lieblingsplatz vor der Höhle. Dreimal schon hatte sie diesen Ort verlassen und war schnurstracks an Mathildes Krankenbett geeilt. Was hatte diese doch bei ihrem letzten Treffen gesagt: „Dann ist meine Zeit also gekommen.“
Linde schauderte bei dem Gedanken, dass ihr Besuch bei Mathilde deren Krankheit vielleicht beschleunigt hatte. Das war ganz und gar nicht ihre Absicht gewesen. Doch sie hatte Mathilde die Wahrheit sagen müssen. Sie hatte ihr keinen Schmerz zufügen wollen und hatte es so sanft wie möglich getan. Und Mathilde wusste selbst, dass jeder Neubeginn andere, vielleicht größere Möglichkeiten barg, als das Bekannte. Seit Linde Mathilde zum ersten Mal begegnet war, hatte sie immer das Bedürfnis gehabt, das ungewöhnliche kleine Mädchen zu beschützen. Ein paar Jahre lag das schon zurück. Zumindest in ihrer Zeitrechnung. Für die Zeit der Menschen war es eine halbe Ewigkeit. Mehr als achtzig Jahre, hatte Mathilde gesagt. Die Sache mit dieser anderen Zeit, die so viel schneller verging, würde Linde nie verstehen.
Wieder huschte ein Lächeln über ihr faltiges Gesicht, wenn sie an ihre erste Begegnung mit Mathilde dachte. Sechs Jahre alt war das Mädchen damals gewesen. Ganz still hatte es am Rand dieser sonnenüberfluteten Lichtung unter dem Schutz großer Bäume gesessen und fasziniert beobachtet, wie ein paar Buschweiblein mitten auf der Lichtung einen Reigen getanzt hatten. Das Kind hatte gewartet, bis der Tanz vorbei war, dann hatte es in die Hände geklatscht und war ebenfalls auf die Lichtung getreten. Worauf die Buschweiblein verwirrt und aufgebracht Reißaus genommen hatten. Menschen gehörten nun einmal nicht in die Welt des verborgenen Volks. Und wenn sich doch einmal jemand einem Menschen zeigte, hatte er die Entscheidung für diese Begegnung getroffen.
Linde hatte an diesem Tag beschlossen, auf den Spuren des mutigen kleinen Mädchens zu bleiben, das eine Mischung aus Neugier, Sehnsucht und tiefer Ehrfurcht ausstrahlte. Welche Sechsjährige wagte sich schon an Orte, an die es kaum einen Menschen zog? Und Mathilde überraschte ihre heimliche Beobachterin immer mehr. So traute sich das Mädchen in dunkle Felsenhöhlen, in denen Hartgesottenere vor Angst davongelaufen wären. Mathilde hingegen fühlte sich dort geborgen. Ebenso in den Wäldern. Je einsamer ein Ort war, desto besser schien er Mathilde zu gefallen. Und dabei durchschritt sie immer wieder Tore in eine Welt, die für Menschen sonst nicht erreichbar war. Natürlich passte Linde gut auf Mathilde auf, damit dem Mädchen während seiner bisweilen riskanten Streifzüge kein Unglück geschah und es immer wieder in die Welt der Menschen zurückkehren konnte. Und dabei schloss Linde die Kleine immer mehr in ihr Herz. Linde mochte Menschen, die die Grenzen nicht hinnahmen, die die sogenannte Vernunft oder der menschliche Verstand ihnen vorgaben.
Was immer die Menschen darunter verstanden, Mathilde würde es von nun an nicht mehr überzeugen. Dieses Mädchen hatte immer gespürt, dass sich hinter dem Rauschen der Bäume, dem Plätschern des Wassers und dem Klang des Windes noch viel mehr verbarg. Dass diese Erde nämlich ein lebendiges Wesen war, dem sie lauschen und dem sie antworten konnte. Als Linde sich Mathilde endlich zu erkennen gab und ihr vorschlug, ihr alles über Seele und Wesen der verschiedenen Pflanzen beizubringen, hatten die Augen des Mädchens zu leuchten begonnen. Und dieses Leuchten war in all den Jahren – mochten es nun wenige oder ganz viele sein – nie erloschen. Auch wenn aus dem kleinen Mädchen inzwischen eine grauhaarige alte Frau geworden war.
Linde schickte sich an, ein weiteres Mal am heutigen Tag in die Welt der Menschen einzutauchen. Über Mathildes Kopf hatte sich einiges zusammengebraut. Und davon war nicht nur sie selbst betroffen, sondern auch ihre Enkelin Daria. Darum musste Linde bei ihr sein. Ihr Mädchen brauchte sie jetzt.“
Diese und alle folgenden Windsbraut-Geschichten sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.




Auf 21 Metern Länge und fast 13 Metern Höhe scheint fast jeder Quadratzentimeter von unterschiedlichsten Motiven überzogen zu sein. Engel, Pflanzen, biblische Szenen und überall Ornamentik. Ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Was diese Steinmetzkunst neben ihrer ungewöhnlichen Menge und Vielfalt so besonders macht, ist die Qualität der Arbeiten. Keine Frage, hier haben die besten Steinbildhauer ihrer Zeit ein bis heute einzigartiges Gesamtkunstwerk geschaffen. Dieses setzt biblische Szenen ins Bild oder zeigt Symbole mit mehreren Bedeutungsebenen. So wurden Geschichten und Botschaften für alle Menschen ‚lesbar‘ gemacht. Denn nur wenige konnten zur Entstehungszeit dieser Kirche die in Latein verfasste Bibel verstehen.
Um Rosslyn Chapel spinnen sich unzählige Mythen, Legenden und Geschichten. Vor allem die Krypta, der älteste Teil der Kirche und über eine Treppe neben der Marienkapelle zu erreichen, weckt bis heute das Interesse von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen, aber auch von esoterisch Inspirierten und Verschwörungstheoretikern. Spekulationen zufolge sollen sich in der Krypta nämlich die Schriftrollen aus Salomons Tempel oder der Kopf von Johannes dem Täufer befinden. Ein anderes Gerücht vermutet die schottischen Kronjuwelen an diesem Ort, während wieder andere Stimmen die Krypta gar als Aufbewahrungsort der Bundeslade wähnen.
Eine Geschichte geht mir dann doch ‚unter die Haut‘. In der Marienkapelle stoße ich auf zwei prachtvoll verzierte Säulen. Die linke Säule soll, so die Erzählung, vom Steinmetzmeister der Rosslyn Chapel geschaffen worden sein. Sie ist wunderschön, jedoch viel schlichter als die zweite Säule. Diese prunkvolle, mit sich nach
oben windenden Ornamentbändern, soll der Lehrling – inspiriert durch einen Traum – in Abwesenheit des Meisters in den Stein gehauen haben. Der Meister war nach Rom gereist, um den Plan dieser Säule zu besorgen. Bei seiner Rückkehr fand er die bereits fertige Säule des Lehrlings in der Kirche vor. Aus Eifersucht auf seinen begabten Schüler bekam der Meister einen Wutanfall und erschlug den Lehrling noch vor der Säule. Dafür wurde der Meister mit dem Tode bestraft. Im westlichen Teil der Kapelle blicken nun die steinernen Köpfe des Lehrlings und seiner Mutter auf die Säule. Doch auch der Kopf des Mörders ist dort im Stein verewigt und dazu verurteilt auf das Werk seines Schülers zu schauen. Diese Geschichte soll der Hiramslegende der Feimaurer ähneln, manche Theorien vermuten sie sogar als Ursprung der Legende um den Architekten Salomons, Hiram Abif. Eine besondere Bedeutung erhält die Säule des Lehrlings noch durch acht Drachen im unteren Teil. Gemäß der nordischen Mythologie befinden sich genau acht Drachen an den Wurzeln des Weltenbaums Yggdrasil.
Eine wichtige Bedeutung kommt auch den Naturdarstellungen zu. Das keltische Fruchtbarkeitssymbol, der Green Man – ein männliches Blattgesicht -, findet sich in Rosslyn Chapel in mehr als hundert Varianten. Dabei sprießen Stängel und Blätter meist auch aus dem Mund der heidnischen Symbolfigur, was verschiedene Deutungen zulässt. Zum einen versinnbildlicht dies die bereits erwähnte Fruchtbarkeit. Genauso könnte man daraus entnehmen, dass die Worte des Green Man und alles, was von ihm ausgeht, im Einklang mit der Natur stehen.