Mitten ins Herz – Culloden

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Früh bin ich an diesem Morgen aufgestanden. Heute geht es an den Ort, den ich schon so lange besuchen will: Culloden Moor.

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Doch vorher fahre ich nach Inverness. Die Stadt wird auch als ‚hub‘ (Radnabe) der Highlands bezeichnet. Sie liegt traumhaft schön an der Mündung des Flusses Ness in den Moray Firth. Und wieder einmal bedaure ich, nicht Beifahrerin zu sein. In der Burg von Inverness, die es längst nicht mehr gibt, hat einst Macbeth regiert. Das war im 11. Jahrhundert.

20160714_132042 - KopieIch schlendere durch die Straßen der 50.000-Einwohner-Stadt, bleibe ab und zu bei Straßenmusikern stehen. Es herrscht eine angenehme Atmosphäre, dennoch empfinde ich Unruhe. Und als ich schließlich am Schloss, das heute statt Macbeth‘ Burg über Inverness thront, zur riesigen Flora MacDonald aufblicke, der Frau, die nach der verheerenden Schlacht im Moor den schönen Stuart-Prinzen in einer mehrmonatigen abenteuerlichen Flucht schließlich auf ein Schiff und damit außer Landes schmuggeln konnte, mache ich mich schleunigst auf den Weg zum eigentlichen Ziel meiner heutigen Reise. Dorthin, wo am 16. April 1746 das Hochland und die schottische Kultur aufgehört haben, das zu sein, was sie bis dahin waren.

Nach wenigen Meilen komme ich an und stelle sogleich fest, dass das Schlachtfeld von Culloden Moor touristisch gut erschlossen ist. Nachdem ich mein Auto auf dem riesigen Parkplatz abgestellt habe, führt mich der Weg zunächst durch einen großen, flachen Bau, der sich jedoch gekonnt und unaufdringlich in die Landschaft einfügt. Er ist Besucherzentrum und Dokumentationsstätte dieser letzten offenen Schlacht auf britischem Boden. Inklusive Shop und Tea Room. Als ich mein Ticket kaufe, macht mich die freundliche Mitarbeiterin auf einen Videoraum aufmerksam, der sich ein wenig versteckt befinden soll. Ich stelle mir einen Dokumentarfilm vor und beschließe, ihn auf jeden Fall anzuschauen.

Die Ausstellung ist informativ und gut gemacht. Dann komme ich an die Tür, hinter der besagter Videoraum sein soll. Die meisten Besucher gehen daran vorbei. Doch ich öffne die Tür und sehe mitten im Raum einen Mann stehen. Immer wieder blickt er von einer Wand zur nächsten. Sie dienen alle gleichzeitig als Projektionsfläche. Als kurz darauf die ersten Szenen beginnen, begreife ich, dass ich mich mitten in der Schlacht befinde. Es ist Mittag am 16. April. 5000 Jakobiten in Hochlandtracht mit Gewehren, Breitschwertern und Rundschilden stehen unter dem Befehl von Charles Edward Stuart 8000 Infanteristen und 850 Kavalleristen sowie 20 Kanonen der Artillerie gegenüber. Die englische Armee unter Oberbefehl von Wilhelm August, Herzog von Cumberland, setzt sich vor allem aus englischen Soldaten, Söldnern, Hannoveranern, aber auch regierungstreuen Schotten zusammen. Und ein bisschen kann ich beim Anblick der angreifenden Highlander nachvollziehen, dass dieser Kampfstil von ihren Gegnern als anarchisch empfunden wurde.

Nun starten die Highlander ihren gefürchteten Sturmangriff. Sie können trotz großer Verluste durch das englische Artilleriefeuer noch die erste Linie der Gegner durchbrechen, erleiden jedoch durch die Gewehrsalven der dahinter stehenden Reihen sowie im Nahkampf der zahlenmäßig weit überlegenen englischen Truppen so schwere Verluste, dass sie den Rückzug antreten müssen. Dann greift die Kavallerie an. Über 1200 Jakobiten fallen, 300 englische Soldaten finden den Tod. Verwundete Krieger auf schottischer Seite lässt der Herzog von Cumberland erschießen. Er geht als ‚The Butcher‘ – der Schlächter – in die Geschichte ein.

„It’s over“, sagt der Mann plötzlich, der mit mir im Raum steht. Erschrocken sehe ich ihn an. Ja, es ist vorbei. Die Schlacht hat damals keine halbe Stunde gedauert und das Schicksal des Hochlands und seiner Traditionen mit Clan-System und schottisch-gälischer Kultur besiegelt. Symbole des schottischen Selbstbewusstseins, wie das Tragen von Tartan und Kilt, stand von nun an unter harter Strafe.

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Schweigend und bedrückt verlassen wir gemeinsam den Videoraum. In der Ausstellung gibt es noch einen Tisch, auf dem der Verlauf der Schlacht elektronisch dargestellt ist. Und es gibt Waffen von damals, Gewehre, die man anfassen kann. Ich habe keine Lust, sie zu berühren. Stattdessen gehe ich nun endlich hinaus auf das riesige, ehemalige Schlachtfeld.

Der Himmel zeigt sich launisch. Düstere Wolkengebilde wechseln sich mit Sonne ab. Weit über eine Stunde laufe ich über das Feld, vorbei an den roten Fahnen, die den Standort des englischen Heeres markieren, hin zu den blauen, den Fahnen der Jakobiten. Dann zur Quelle der Toten und zum mehr als 10 Meter hohen Gedenkturm  für die Gefallenen und den einfachen Gedenksteinen der einzelnen Clans. So viele Leichen haben hier gelegen und ihr Blut hat den Boden durchtränkt. Erst spät wurden sie von Menschen der nahen Orte bestattet, wie ich lese.

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Wie konnte es zu diesem grauenhaften Ereignis kommen, bei dem sich zwei entfernte Cousins, der Herzog von Cumberland und der Stuart-Prinz, beide erst um die 25 Jahre alt, gegenüberstanden? Schottland und England waren seit 1707 eine Union. Großbritannien. In London regierte George II. aus dem Hause Hannover, während auf dem Festland die Stuarts nach der Vertreibung des katholischen Königs James II. im Jahr 1688 darauf sannen, mit dessen Enkel, Charles Edward Stuart, den Thron von Schottland und England zurückzuerobern. Nachdem der Stuart-Prinz ein paar tausend Anhänger – vorwiegend aus dem Hochland – überzeugt hatte, mit ihm den Aufstand zu wagen, siegte er im September 1745 in der Schlacht bei Prestonpans in der Nähe von Edinburgh zunächst über die englischen Truppen. Am 8. November desselben Jahres überschritt er mit seiner inzwischen 5000 Mann zählenden Truppe sogar die englische Grenze. Sie gelangten bis Derby, 200 Kilometer vor London. Dort wurde jedoch der Rückzug auf Drängen des schottischen Oberbefehlshabers Lord George Murray und gegen den Willen des Prinzen beschlossen. Denn die Jakobiten waren durch zwei englische Armeen unter dem Kommando des Herzogs von Cumberland sowie unter General George Wade bedrängt worden. Zudem waren die Hochländer geschwächt, da sie keinen Sold erhielten und die versprochene Truppenverstärkung aus Frankreich ausblieb.

Dennoch siegten die Schotten im Januar noch einmal bei Falkirk. Doch die Truppe wurde kleiner, weil viele von Bonnie Prince Charlies Anhängern desertierten. Die Versorgung war schlecht und weitere Unterstützung noch immer nicht in Sicht. Schließlich kam es zur folgenschweren Entscheidung des schottischen Oberbefehlshabers, nach einem stundenlangen Nachtmarsch die englischen Truppen in ihrem Lager anzugreifen. Doch das englische Lager wurde erst zu spät aufgespürt und Oberbefehlshaber Murray forderte für die erschöpften Männer einen Rückzug. Bonnie Prince Charlie entschied jedoch, den Gegnern sofort in Culloden Moor zu begegnen.

Sommerfrische royale

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Kein strahlend blauer Himmel heute, aber trocken. Das ist gut. Ich mache mich auf den Weg zum Feriensitz, pardon, zur Sommerresidenz der königlichen Familie in Balmoral. Das Schloss liegt am Fluss Dee unterhalb des Berges Lochnagar in den Grampian Mountains. Hier ist die Queen privat, denn offizielle Residenz in Schottland ist der Palace of Holyrood House in Edinburgh. 20160718_151449Zwei Stunden dauert die Fahrt, bis ich schließlich den Besucherparkplatz von Balmoral erreiche. Weil die Queen gerade nicht anwesend ist, dürfen Fremde auf das riesige Anwesen. Obwohl es eine Warteschlange an der Kasse gab, verlaufen sich die vielen Besucher schnell auf dem Gelände. Die 20160718_151525Gartenanlagen, in denen auch Gemüse für den Bedarf im Schloss angebaut wird, haben mich schon bei meinem ersten Besuch vor vier Jahren fasziniert. Mindestens eine Stunde sitze ich an einen dicken Baumstamm gelehnt auf dem warmen Rasen und genieße die Ruhe und Heiterkeit dieses Ortes. Dann mache ich noch einen Rundgang durch den Ballsaal, den einzigen Raum im Schloss, den Besucher betreten dürfen, bevor ich mich zu einer Pause im nahe gelegenen Tea Room entschließe. Warum ich mir dann jedoch die Strass-Replik eines (dezenten) königlichen Brillant-Colliers kaufe, wird mir wohl ein Rätsel bleiben. Zumindest sieht die Kette hübsch aus und wird mich an diesen entspannten Nachmittag erinnern …

Die Geister der Vergangenheit

Es bleibt noch Zeit für einen weiteren Stopp. Nur wenige Meilen von Balmoral entfernt liegt nämlich das Örtchen Braemar. Hier hat Robert Louis Stevenson 1881 wichtige Passagen seines Abenteuerromans Die Schatzinsel geschrieben. Außerdem finden hier an jedem ersten Samstag im September die vielleicht bekanntesten Highland Games statt, das Braemar Gathering. Auch die Queen ist dabei. Und20160716_143722 - Kopie mit ihr 15 – 20.000 Besucher, die jedes Jahr erwartet werden. Ich kann mir kaum vorstellen, wie der kleine Ort so viele Menschen bewältigt. Mindesten zwei Jahre vorher muss man sich anmelden, um ein Hotelzimmer oder eine andere Unterkunft zu ergattern. Das erfahre ich von der Ehefrau eines Sporran-Machers (traditionelle Geldbörse, die über dem Kilt getragen wird). Das Ehepaar betreibt im Zentrum des Ortes ein kleines Geschäft. Weil die Werkstatt des Mannes im hinteren Teil des Ladens liegt, schaue ich ihm eine Weile bei der Arbeit zu und versuche ein Gespräch zu beginnen. Doch ich bekomme keine Antwort auf meine Fragen. Nicht einmal ein Kopfnicken. Vielleicht hätte ich zuvor seiner Frau nicht erzählen sollen, dass ich bei einem Trödelhändler in Melrose einen wunderbaren alten Leder-Sporran erstanden habe, den ich als Handtasche tragen werde. Anders als der Sporran-Macher hat der Antik-Händler in Melrose schallend gelacht, als ich die geplante Nutzung erwähnte.

20160716_122916 - KopieVor den Toren des Ortes liegt Braemar Castle. Sternförmig zieht sich eine Ringmauer um das Schloss, was militärische Vorteile bei Artilleriebeschuss bringen sollte, wie der Museumsführer erläutert. Eine dreiköpfige Familie aus Irland und ich hören seinem unterhaltsamen Vortrag aufmerksam zu. Das Schloss wird vom Ort Braemar – beziehungsweise dem dortigen Förderverein – unterhalten. Sämtliche Kosten werden über Eintritt, Veranstaltungen und ganz viel privates Engagement gestemmt. Auch bei unserem Schlossführer spürt man die Liebe zu diesem Bauwerk und seiner Geschichte.

Das 1628 errichtete Braemar Castle war Jagdschloss der schottischen Könige, diente aber auch zur Verteidigung gegen den Clan der Farquharsons, der sich schon früh der englischen Regierung angeschlossen hatte. John Farquharson, der als Black Colonel in die Geschichte des Schlosses einging, brannte Braemar 1689 schließlich nieder, nachdem er es zuvor erobert hatte. Das Schloss sollte bis 1748 eine Ruine bleiben.

Die Jakobitenaufstände spielten ebenfalls für das Schicksal von Braemar Castle eine wichtige Rolle. Denn der Nachfahre des Erbauers, der 23. Earl of Mar, war Anhänger Bonnie Prince Charlies und führte die Aufstände 1715 an. Das blieb nach der Niederlage von Culloden 1746 nicht ohne Folgen, denn die Krone beschlagnahmte Braemar Castle und übergab es dem Farquharson-Clan für treue Unterstützung. Jedoch pachtete die Krone das Schloss, um es Mitte des 18. Jahrhunderts wieder aufzubauen und als Garnison zu nutzen. Ab 1831 bekam der Clan Farquharson das Schloss zurück und baute es zu einem Wohnhaus um. Auch Queen Victoria soll hier residiert haben, bevor sie schließlich Balmoral für sich entdeckte. Heute befindet sich Braemer Castle zwar noch immer im Besitz des Farquharson-Clans, wurde jedoch 2006 an die Gemeinde übergeben, die sich nun um den Erhalt kümmert.

Ich mag dieses ungewöhnliche Schloss mit den kleinen Erkertürmen und der sich links drehenden Wendeltreppe über fünf Stockwerke. Und es hat alles, was man von einem ordentlichen Schloss erwartet: Prächtig verzierte Stuckdecken, einen Drawing Room, Speise-, Morgen-, Laird’s- und Rosen-Raum. Passend ausgestattete Gästezimmer für die Dame und den Herrn, gewaltige Pfostenbetten und rosafarbene Bäder. Natürlich fehlt auch die Küche nicht und leider gibt es auch das Kellerverlies. Und drei Gespenster. Mindestens. So soll der Geist einer jungen Frau Frischvermählte heimsuchen, die ihre Hochzeitsnacht im Schloss verbringen. Während ihrer eigenen Flitterwochen auf Schloss Braemar erwachte sie eines Morgens und glaubte, ihr Mann habe sie verlassen. Daraufhin nahm sie sich das Leben. Dann gibt es noch den Geist eines Dudelsackspielers sowie des Black Colonels, der öfter im Schloss gesehen wird und dessen Pfeifenrauch zu riechen sein soll.

Mir wird kalt bei all diesen Geschichten und so bin ich froh, dass die Führung außerhalb des Schlosses weitergeht. Unser humorvoller Schlossführer hantiert plötzlich mit einem Baumstamm, den er dann gekonnt in die Luft wirft. Der Baumstamm dreht sich um 180 Grad, landet auf der ‚Spitze‘ und fällt schließlich der Länge nach auf den Boden. Dabei bildet er eine Längslinie zum Werfer, was den Mann offensichtlich freut. Auch wenn der Baumstamm deutlich kürzer und dünner ist als üblich, haben wir gerade eine Darbietung des caber toss bekommen, einer der traditionellen Disziplinen der Highland Games. Leider lässt unser engagierter Schlossführer es dabei nicht bewenden, und der Ire und ich müssen ebenfalls zum caber toss antreten. Und tatsächlich bin ich ein bisschen stolz, als der Baumstamm halbwegs gerade auf dem Boden aufkommt, nachdem er sich zuvor tatsächlich einmal in der Luft gedreht hat. Und warm ist mir auch wieder.

Von keltischen Barden und schottischen Familienbanden

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Ist erst einmal die morgendliche Dreiviertelstunde Fahrt von meinem Hotel bis zur Hauptstraße geschafft, werden die Straßen in Richtung Grampian Mountains auch schon breiter. Dafür sind sie hier auch stärker genutzt. Sowohl von Autofahrern als von Schafen. Und natürlich von Zweiradfahrern, die sich den Hochlandwind um die Nase wehen lassen. Würde mir auch gefallen.

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Dem Erfinder von Ossian auf der  Spur

Mein heutiger Weg führt mich noch einmal nach Newtonmore in den Grampian Mountains. Außer dem Highland Folk Museum gibt es dort nämlich ein zweites Museum, auf das ich gespannt bin. Das Clan Macpherson Museum. Vor einigen Tagen habe ich gelesen, dass der schottische Schriftsteller und Politiker James Macpherson (1736 – 1796)  ganz in der Nähe, nämlich in Ruthven, gelebt haben soll. Auf Ruthven bin ich durch die eindrucksvolle Ruine gleichen Namens gestoßen. Auf James Macpherson und die Fragments of Ancient Poetry (1760) hingegen wurde ich bereits vor vielen Jahren beim Thema englische (beziehungsweise schottische) Romantik aufmerksam.20160715_145937 - Kopie

Schon während seines Studiums in Aberdeen und Edinburgh schrieb der junge Macpherson Gedichte. Große Bekanntheit erlangte er jedoch erst durch die angebliche Entdeckung der Werke des keltischen Barden Ossian. Dieser erzählt in seinen Gedichten von den Heldentaten und dem Untergang seines Volkes, dessen letzter Überlebender er ist. Ein blinder Weiser, der bisweilen auch als nordischer Homer bezeichnet wird.

Die Ossianischen Gesänge erschienen während der Frühphase der Romantik. Es war eine Zeit der Hinwendung zum Norden und einer verklärten und verklärenden Sicht auf dessen Geschichte. Bisweilen wurde diese nachträglich ‚passend‘ gemacht oder einfach neu erfunden. Wie im Fall Ossian. Oder besser gesagt, im Fall des James Macpherson. Denn er war der eigentliche Urheber der angeblich im Hochland zusammengetragenen Schriften. Der ersten folgten sogar weitere Veröffentlichungen vermeintlich uralter Verskunst: Fingal, an Ancient Epic Poem in Six Books (1761), Temora (1763) sowie The Works of Ossian (1765). Und die Werke wurden auch noch in andere Sprachen übersetzt. Ein Teil der europäischen Welt jubelte. Musste man jetzt nicht mehr ausschließlich aus den kulturellen Quellen der Antike schöpfen, sondern konnte endlich auch auf ‚eigene‘ Wurzeln zurückgreifen. Damit war Ossian aus der englischen Romantik nicht mehr wegzudenken und frühe Zweifler an der Echtheit der Werke fanden kein Gehör.

Erst Jahre später wurden die Ossianischen Gesänge öffentlich als Fälschungen entlarvt. James Macpherson indessen wurde Mitglied des britischen Parlaments und blieb es bis zu seinem Tode.

Ossian ist doch keine Erfindung

… dachte ich, als ich das Clan Macpherson Museum in Newtonmore betrete und herzlich von einem langgelockten Mann im Kilt begrüßt werde. Und während ich mich frage, ob er vielleicht ein Nachfahre des legendären Barden Ossian sei, überrascht er mich gleich noch einmal. Diesmal mit der Frage, ob ich eine Macpherson sei. Nachdem ich lachend verneint habe, erzählt er mir, dass hierher Macphersons aus der ganzen Welt kämen, um ihre schottischen Wurzeln aufzuspüren. Das gefällt mir und fast bedaure ich, keine Macpherson zu sein.

Als ich ihn nach James, dem Ossian-Erfinder, frage, lacht er diesmal und deutet auf den hinteren Teil der Ausstellung. Dort sei Ossian und seinem Verfasser sogar ein ganzes Kapitel gewidmet. Ich werde neugierig. Bevor ich mich jedoch auf den Weg durch die Ausstellung mache, nehme ich das Angebot des Mannes im Kilt an und schaue mir zuerst ein zehnminütiges Video über den Macpherson-Clan an. Und wieder denke ich, dass es vielleicht schön wäre, selbst zu einem solchen Clan zu gehören.

Ich bleibe lange in der Ausstellung. Sie erzählt die Geschichte des Clans von frühestem Beginn an. Genauer beginne ich zu lesen, als ich bei den Jakobiten-Aufständen ankomme. Das Hochland war damals zerrissen zwischen der Regierungs-Gefolgschaft und der Unterstützung des Stuart-Prinzen. Die Entscheidung für die eine oder die andere Seite war komplizierter als es manche Beschreibungen glauben machen wollen. Und es war längst kein Konflikt England gegen die Highland-Clans. Oft stand ein Clan nicht geschlossen für die eine oder andere Sache. Sogar Eheleute kämpften bisweilen auf verschiedenen politischen Seiten. Doch das ist ein anderes Kapitel. Langsam folge ich der weiteren Ausstellung und stehe bald vor heraldischen Zeugnissen, Wappen und den typischen Attributen des Highland Dresses, bis mich schließlich ein sehr ernstes Kapitel zum Ersten und Zweiten Weltkrieg  wieder zum längeren Verweilen bringt.

Die wenigen anderen Besucher haben mich längst überholt. Nicht, dass ich die Texte Wort für Wort lese. Es sind zu viele, um sich deren Inhalte zu merken. Aber ich betrachte eingehend die Exponate, Zeugnisse einer langen Familientradition und eines starken Gefühls der Verbundenheit. Der letzte Ausstellungsteil ist Clan-Mitgliedern gewidmet, die öffentliche Positionen inne hatten oder haben. Viele Politiker sind dabei, aber auch bedeutende Wissenschaftler und Künstler. Und dann entdecke ich noch das Model Elle Macpherson. Na klar, sie heißt ja auch so.

Bevor ich das Museum verlasse, komme ich noch einmal mit dem netten Mann ins Gespräch. Natürlich ist auch er ein Macpherson. Dieses Museum ist klein, aber es ist mit Herzblut gestaltet. Bei meinem nächsten Besuch in den Grampian Mountains komme ich wieder hierhin. Und wer weiß, vielleicht behaupte ich dann einfach, eine Macpherson zu sein. Das passende Clan-Abzeichen und eine DVD mit der ausführlichen Geschichte der Macphersons kaufe ich mir jedenfalls im kleinen Museumshop. Und als ich endlich gehen will, fällt mein Blick noch auf eine CD. Darauf ist ein keltischer Steinkreis zu sehen. Trees and Stones heißt sie. Die Lieder besingen – den Titeln nach zu schließen – die alten Zeiten und die Natur. Als ich die Rückseite betrachte, fällt mir fast die Kinnlade herunter. Interpret und Komponist ist der Museumsmann.

Ich hatte also Recht. Er ist wirklich ein Nachfahre des keltischen Barden Ossian …

Wo Rauch ist …

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… gibt’s natürlich auch Feuer. Und an diesem etwas kühleren Tag in den Grampian Mountains der schottischen Highlands kommt mir das gerade recht, um ein paar Minuten zu verweilen und mich umzuschauen. Sobald sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Dieses Haus hat nämlich keine Fenster, sondern – abgesehen vom Eingang – nur mit Erde verfüllte Wände aus Trockensteinmauern. Ich befinde mich in einem Blackhouse der Siedlung Baile Gean aus dem 18. Jahrhundert. Und dieses Haus wurde zusammen mit sechs weiteren Blackhouses aus der ursprünglichen Siedlung Badenoch aus einem Tal des Flusses Spey hier im Highland Folk Museum in Newtonmore rekonstruiert.

Das Freilichtmuseum geht auf die Edinburgherin Isabel Frances Grant zurück, die bereits 1935 begann, Einrichtungen aus alten schottischen Häusern zu sammeln, um diese für die Nachwelt zu erhalten. Mit dem Highland Folk Museum ist inzwischen ein eindrucksvolles Areal entstanden, das Wohn- und Arbeitsbedingungen in den Highlands von der frühen Neuzeit bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg präsentiert. Manche Gebäude sind sogar Originale, die hierhin transportiert und wieder aufgebaut wurden.

Es gibt einen Bauernhof aus dem 19. Jahrhundert, ein Dorf aus den Dreißigern des letzten Jahrhunderts mit Kirche, Handwerkerhäusern von Schneider, Uhrmacher und Schreiner, einer Post und kleinem Laden. Und einer Schule. Da sich gerade ein heftiger Regenschauer ankündigt, suche ich hier Unterschlupf. Und komme vom Regen in die Traufe. Zumindest bildlich betrachtet. Ich gerate nämlich mitten in eine Schulstunde, bekomme gleich an der Tür ein Blatt mit Schreibfeder ausgehändigt und werde gebeten, nein, aufgefordert, auf einer der alten Schulbänke Platz zu nehmen und einen Test mitzuschreiben. Leider sind die Tintenfässchen vorn im Pult tatsächlich gefüllt und es gibt keine Ausrede. Während ich fleißig vor mich hinschreibe, erklärt ‚unser Lehrer‘ uns den Schulalltag in den Dreißigern. Als er uns den Lederriemen und dessen häufigen Einsatz bis weit in die Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts einprägsam beschreibt, kratze ich direkt ein bisschen schneller mit der Feder über das Blatt. Nach einer Dreiviertelstunde verlasse ich den Klassenraum um einiges klüger, was den harten und langen Tag eines Highland-Schülers der 1930er Jahre betrifft. Für meinen Test bekomme ich übrigens – entsprechend des britischen Schulsystems – eine 9 bis 10. Ich überlege ernsthaft, mir das Blatt einzurahmen.

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Doch zurück ins Blackhouse: In der Mitte des Raums brennt das traditionelle Torffeuer, darüber ist im Reetdach ein Loch zum Abzug des Rauches. Der frisst sich trotzdem sekundenschnell in meine Nase, Haare und Kleidung. Dabei ist das hier noch die angenehme Variante. Auf der Isle of Harris hatten die Blackhouses keinen Abzug über der permanent brennenden Feuerstelle. Und wenn die Luft im gesamten Haus vom Rauch gesättigt war, bahnte dieser sich seinen Weg durch das geschlossene Reetdach. Aus dem Dach dieses Blackhouses steigen ebenfalls Qualmwolken auf und vermitteln von Weitem erst einmal den Eindruck, das ganze Haus gehe gleich in Flammen auf.

Ich werfe einen letzten Blick auf die karge Einrichtung aus Bett, Stühlen und Kochstelle, gehe noch einmal zu dem Teil des Raums, in dem das Vieh untergebracht war, und verlasse das Blackhouse. Vor der Tür stehen fünf Frauen in fröhlicher Runde. Zwei von ihnen tragen zeitgenössische Kleidung aus dem 17. Jahrhundert, die anderen drei sind Besucherinnen. Ich geselle mich zu ihnen und erfahre, dass die Touristinnen aus England, Irland und den USA kommen. Die Unterhaltung dauert an und wir lachen viel. Wahrscheinlich haben auch die anderen drei Besucherinnen zuvor die Schulbank gedrückt und ihre Ausgelassenheit ist einfach Ausdruck der Erleichterung, dem strengen Lehrer wieder entkommen zu sein.

Da guckte die Queen

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Auf der M 90 geht es nun nach Norden. Vorbei an Perth und weiter nach Pitlochry. Kurz dahinter beginnen schon die Grampian Mountains. Doch ich mache erst einmal Halt in dem malerischen Ort.

Ceud mile fàilte

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‚100.000 Willkommen‘ heißt der gälische Gruß am Ortseingang von Pitlochry. Die knapp 3000 Einwohner zählende Stadt am Fluss Tummel lädt zu einem kleinen Bummel durch die reich mit Blumen geschmückten Straßen ein. Entstanden sein soll sie, 20160713_172503 - Kopienachdem ein britischer General 1725 eine Straße an dieser Stelle bauen ließ. Ziel war, nach den Jakobiten-Aufständen 1715 die bisher 20160713_171847 - Kopieschwierig erreichbaren ländlichen Regionen in den Highlands zugänglich zu machen. Mehr als hundert Jahre später lenkte Queen Victoria (1819-1901) mit ihrem Besuch das Interesse der Öffentlichkeit auf Pitlochry. Dieses ist heute vor allem für seine 311 Meter lange Lachsleiter bekannt.

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Beliebt bei Königinnen

Nur wenige Meilen entfernt gibt es noch einen Ort, dem der Besuch Queen Victorias Berühmtheit gebracht hat. Der sogenannte Queen’s View. Auf dem Weg zu meinem Hotel biege ich hinter Pitlochry nach Westen ab. Die Straße ist sehr eng und ausgesprochen kurvenreich. Zudem ist sie so schmal, dass nur ein Auto darauf zu passen scheint. Schon nach kurzer Zeit werde ich eines Besseren belehrt. Als ich schließlich an einem Schild vorbeifahre, das auf den Queen’s View aufmerksam macht, wundere ich mich nicht länger über den regen Verkehr und entscheide mich ebenfalls spontan für einen Zwischenstopp. Dafür werde ich mit einem herrlichen Blick  auf Loch Tummel und die bewaldeten Hügel ringsum belohnt. Ganz im Hintergrund ragen sogar die schroffen Bergen des Glen Coe auf.

Die Bilder von Queen Victoria in und um das neue Besucherzentrum vermitteln den Eindruck, der Name der Plattform mit dem wunderbaren Ausblick rühre von dieser Queen her. Doch der Queen’s View trug seinen Namen schon vor Queen Victorias Besuch und soll sich auf die Ehefrau des Schottenkönigs Robert the Bruce (1274-1329) beziehen. Diese war – nur zeitversetzt um ein paar Jahrhunderte – ebenfalls hier.

Noch ein Traumblick für süße Träume

20160713_111148 - KopieNach einer Dreiviertelstunde kurvenreicher Fahrt durch die schottische Einsamkeit erreiche ich schließlich Kinloch Rannoch, meine nächste Station für eine ganze Woche. Es ist ein hübscher, sehr kleiner Ort umgeben von Bergen. Mein Hotel liegt direkt am See Rannoch. Und der Parkplatz, auf 20160712_181947 - Kopiedem sogar ein Wagen mit der Emily als Kühlerfigur steht (mutig, angesichts der engen Straße), lässt darauf schließen, dass es hier gar nicht so einsam ist. In der Lobby empfängt mich ein harmonisches Miteinander unterschiedlichster Karos: Auf dem Boden, den Kissen, Sofas, Sesseln und Stühlen. Nach einer fröhlichen und ausführlichen Begrüßung durch die freundliche Mitarbeiterin an der Rezeption mache ich mich auf den Weg zu meinem Zimmer. Und kann – dort angekommen – mein Glück kaum fassen angesichts dieses Ausblicks auf den See. Sogar ein Stück des Bergs Schiehallion ist im ‚Bild‘. Der weite Weg hat sich gelohnt!

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Jetzt geht’s in die Highlands

sunshine on fife

Copyright: Fotolia – Louise McGilviray

Doch vorher geht es erst einmal über den Firth of Forth, die Mündung des Flusses Forth, mit der berühmten Forth Bridge. Die zweigleisige Eisenbahnbrücke wurde 1890 eröffnet und ist als Brücke mit der ehemals weltweit größten Spannweite längst zu einem Wahrzeichen Schottlands geworden.

Ich überquere den Firth of Forth natürlich über die Forth Road Bridge, eine vierspurige und sehr eindrucksvolle Hängebrücke, die 1964 für den Autoverkehr freigegeben wurde. Und während ich über die breite Flussmündung fahre, die ein Drittel des Landes vom größeren Teil Schottlands mit den berühmten Highlands trennt, fühle ich mich auch brückentechnisch zwischen der Vergangenheit und der Zukunft schwebend. Denn links von der Forth Road Bridge entsteht gerade die Queensferry Crossing, eine Schrägseilbrücke, die schon bald für den Verkehr geöffnet werden soll. Doch im Moment ist Queensferry Crossing noch keine zusammenhängende Brücke. Die drei riesigen Pfeiler stehen als ausladende, gigantische Elemente unverbunden hintereinander. Ein sehr eindrucksvoller Anblick. Schade, dass ich nicht mitten auf ‚meiner‘ Brücke anhalten und eine Weile nur betrachten kann. Könnte nicht ein klitzekleiner Stau ein bisschen Aufschub an diesem schönen Ort des Übergangs bringen? Natürlich nicht, panta rei …

The new Forth Bridge: Queensferry, Edinburgh, Scotland

Copyright: Fotolia – douglasmack

 

 

‚Lost‘ im Labyrinth: Die Tücken von Traquair House

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Jeden Tag zwei Attraktionen. Mindestens. So lautet meine Vorgabe für diese Schottland-Reise. Bisher konnte ich sie problemlos umsetzen. Darum war ich auch heute Morgen zuversichtlich, an diesem Tag das märchenhafte Moffat Water Valley wiederzusehen und  auf dem Weg dorthin noch Traquair House kennenzulernen.

Denn dies ist das älteste kontinuierlich bewohnte Herrenhaus Schottlands. Und das seit tausend Jahren, wie mir das Video im kühlen Kellergewölbe des eindrucksvollen Landsitzes erzählt. Weil das ursprünglich deutlich kleinere Haus immer wieder verändert und erweitert wurde, stammt ein Großteil des jetzigen Baus aus dem 17. Jahrhundert. Mag sein, dass die ständige Anwesenheit der Familie der Grund ist, dass sich über all die Jahrhunderte kein einziger Geist in dem Gemäuer eingefunden hat. Was schon sehr ungewöhnlich ist für ein schottisches Schloss. Und ziemlich enttäuschend für die Besucher, die in froher Erwartung auf eine schöne Schauergeschichte herbeiströmen. Um diesen Makel wett zu machen, hat die heutige Besitzerin ein kleines Gruselkabinett in einem der Kellerräume eingerichtet. Der Raum ist mit allerlei Spuk-Utensilien bestückt und wird von einer lebensgroßen, in einem Schaukelstuhl sitzenden Frauenfigur dominiert. Da die Dame dem Betrachter den Rücken zuwendet, hat das etwas von Bate’s Motel aus dem Hitchcock-Thriller Psycho.

Eine Etage höher erfahre ich jedoch, dass das Haus nicht ganz so ‚geistlos‘ ist, wie zuvor behauptet. So soll ein Mitarbeiter an einem nebeligen Morgen im Schlossgarten eine Frau gesichtet haben, die über die Wege wandelte. Der Mann erkannte in ihr eine frühere Angestellte. Bis hierhin nichts Ungewöhnliches, abgesehen von der Tatsache, dass die Frau zu diesem Zeitpunkt schon verstorben war. Nicht überliefert ist, ob der Beobachter gerade aus der hausinternen Brauerei kam, wo er vielleicht zu reichlich vom Selbstgebrauten gekostet hatte. Doch das ist nur meine persönliche Vermutung.

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Traquair House diente seit dem 12. Jahrhundert als Jagdschloss der schottischen Könige. Auch Maria Stuart (1542-1587) und ihr Sohn waren hier zu Gast. Zeugnis davon legt unter anderem Handschriftliches der später zum Tode verurteilten schottischen Königin ab, das unter Glas zu besichtigen ist. Es ist noch immer gut zu entziffern.

Und es gibt eine weitere Historie. Im Jahr 1745 wurden die Eisentore am Haupttor zum Schloss hinter Charles Edward Stuart, Bonnie Prince Charlie, mit dem Schwur geschlossen, sie erst dann wieder zu öffnen, wenn ein Stuart den Thron besteigt. Der Schwur wird bis heute peinlichst gehalten, weshalb die Einfahrt nicht länger Einfahrt ist, sondern zur riesigen Rasenfläche umgestaltet wurde und ein neues Eingangstor an der Seite angelegt werden musste. Denn das ehemalige Haupttor ist tatsächlich seit 271 Jahren geschlossen geblieben.

20160710_135740 - KopieNach einem anregenden Gespräch mit einem Angestellten, der mir eine Handvoll Tipps für meine weitere Reise gibt (ich hoffe, es war nicht der Mann, der den Geist gesehen hat), kann ich es kaum erwarten, die wundervollen Gartenanlagen um Traquair House kennenzulernen. Jeder Gartenliebhaber kommt hier auf seine Kosten. Wie magisch angezogen fühle ich mich zuerst jedoch vom Labyrinth auf der Rückseite des Schlosses. Von oben sieht es auch gar nicht groß aus, sodass mir ein kleiner Abstecher durch die mindestens zwei Meter hohen Hecken ein schöner Auftakt für die Gartenbesichtigung zu sein scheint. Doch der Aufenthalt in diesem Labyrinth gestaltet sich deutlich länger und bewegungsreicher als geplant. Während ich die nicht enden wollenden Heckengassen entlanghaste und vor immer neue grüne Wände stoße, kommt mir ein Gedanke. Könnte es nicht sein, dass Traquair House über kein ordentliches Schlossgespenst verfügt, weil sich mögliche Anwärter in diesem Labyrinth verirrt haben?  Ich bin sehr froh, als ich schließlich doch noch hier herausfinde. Über den Fools Exit. Egal, Hauptsache wieder draußen!

20160710_143541 - KopieFür den übrigen Garten bleibt dann leider nicht mehr ganz so viel Zeit. Und auch die Essenspause im wunderschönen Cottage auf dem Schlossgelände ist weniger beschaulich als geplant. Dafür schaffe ich es im Moffat Water Valley noch bis zum Grey Mare’s Tail mit seinen für 20160710_164245 - Kopiedie Lowlands doch ziemlich beeindruckenden Hügeln.

Und auf dem Rückweg reicht es sogar für einen Abstecher nach Selkirk, wo Sir Walter Scott einst als Sheriff und später als Richter tätig war. In der dortigen Waverley-Mill (wie sollte sie sonst heißen) der Firma Lochcarron kann ich dem charmanten Tea Room mitten im Verkaufsraum und dem Tweed nicht widerstehen. Und dieses Mal meine ich bestimmt nicht den Fluss.

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(M)eine schottische Romanze – Abbotsford House

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Als ich Abbotsford House in der Nähe von Melrose zum ersten Mal besuchte, war ich siebzehn Jahre alt. Das ist eine ganze Weile her. Doch diese erste Begegnung hat meine Begeisterung für Schottland geprägt. Es war genau dort, als der Funke übersprang, und ich zum Schottland-Fan wurde. Nicht, dass ich die „Romanze in Stein und Mörtel“, wie sein Erbauer, Sir Walter Scott (1771-1832), seinen schlossähnlichen Landsitz nannte, schöner fände, als manch anderes schottisches Herrenhaus. Im Gegenteil. Das lange Gebäude mit 20160708_134711 - Kopieseinen vielen Kaminen, Zinnen und kleinen Türmen ist eine gewagte Mischung unterschiedlichster Quellen und ‚Zitate‘ historischer Bauwerke. So soll der Eingang dem Hauptportal von Linlithgow Palace nachgebildet sein, während die Mauer im Hof wie der Kreuzgang von Melrose Abbey gestaltet sei. Und drinnen geht es ebenso vielfältig weiter. Denn der schottische Dichter und Schriftsteller war ein begeisterter Sammler. Beispielsweise von Waffen und Kuriositäten, die die Räume und Wände von Abbotsford House füllen. Stil findet man hier zunächst nicht. Zumindest keinen einheitlichen.

Ein Jurist wird Romantiker

Walter Scott hat in Edinburgh Rechtswissenschaften studiert, wurde anschließend Sheriff von Selkirk und später Richter. Die Literatur hat ihn jedoch schon immer fasziniert und er übersetzte noch während des Studiums Werke bekannter Schriftsteller, darunter auch von Goethe. Als er selbst zu schreiben begann, waren es zunächst epische Romanzen. Aus seiner Feder stammen Werke wie Marmion (1808) oder The Lady of the Lake (1810). 1814 folgte – zunächst anonym – sein erster Waverley-Roman. Damit begründete Scott das Genre des historischen Romans. Dem ersten folgten noch 25 weitere und Sir Walter Scott wurde zum Bestseller-Autor. Rob Roy und Ivanhoe sind ebenfalls schottische Helden, die er zu neuem Leben erweckte und damit einen entscheidenden Anteil an der aufkeimenden Schottlandromantik hatte. Und diese ging schon damals weit über die Landesgrenzen hinaus.

Wieder tragbar: Tartan und Kilt

Eigentlich heißt Scotts erster Waverley-Roman in Übersetzung: Waverley  oder s‘ ist sechzig Jahre her. Mit dem Zusatz ist der Jakobiten-Aufstand gegen die englischen Regierungstruppen gemeint, die mit Charles Edward Stuart – genannt Bonnie Prince Charlie – die Stuarts zurück auf den schottischen und englischen Thron bringen wollten. Der Aufstand endete mit der vernichtenden Niederlage der Clans in der Schlacht von Culloden im Jahre 1746. Natürlich wird im Roman Waverley der Aufstand der Clans ‚offiziell‘ verurteilt und der junge, unerfahrene und in seinen politischen Überzeugungen noch schwankende Held findet gerade noch rechtzeitig den Absprung zur politisch korrekten Seite. Zugleich gelingt es dem Autor aber, den Schotten ihren Stolz zurückzugeben, indem er Geschichte und Tradition der schottischen Clans erzählt und bei seinen Lesern eine romantische Sehnsucht nach den ‚alten Zeiten‘ hervorruft. Eine subtile Form politischen Handelns. Einen großen Schritt weiter geht der zu diesem Zeitpunkt schon geadelte Sir Walter Scott, als er im Jahre 1822 in der Funktion eines Zeremonienmeisters für den Besuch George IV. in Edinburgh – es war der erste Besuch eines englischen Königs in Edinburgh seit 200 Jahren – den royalen Gast in Highland-Outfit mit Kilt in Szene setzt. Seit Culloden war das Tragen von Clan-Attributen wie Tartan und Kilt bei strengster Strafe verboten. Der Auftritt des englischen Königs George IV. in Hochlandtracht machte den Schottenrock nicht nur wieder salonfähig, sondern löste einen wahren Karo- und Kilt-Boom aus, der bis zum heutigen Tage anhält und mit immer neuen Highland-Bestseller-Romanen und -Filmen weiter befeuert wird.

Den Roman Waverley habe ich – angestoßen durch ein Seminar zur englischen (und schottischen) Romantik – ein paar Jahre nach meinem ersten Besuch in Abbotsford House gelesen. Ich gebe zu, das Buch ist ziemlich dick. Doch die Geschichte hat in mir den Wunsch geweckt, endlich einmal nach Culloden zu fahren. Bei meinen bisherigen Schottlandreisen habe ich jedoch keinen meiner Mitreisenden davon überzeugen können. Doch diesmal bin ich ja allein unterwegs.

Romantik bis zum Schluss …

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Dass der Rechtsgelehrte Sir Walter Scott durch und durch ein Romantiker war, zeigt auch seine Grabstätte, die er selbst ausgewählt hat. Es ist die Abteiruine Dryburgh, für deren Erhalt er sich zu Lebzeiten intensiv eingesetzt hat. Dort wurde er 1832 beigesetzt. Bei der Fahrt dorthin soll das Pferd, das die Kutsche mit seinem Sarg zog, noch einmal am nahe gelegenen Scott’s View ohne Anweisung des Kutschers stehen geblieben sein. Der Erzählung nach hat hier Sir Walter Scott immer eine kleine Pause eingelegt, um den traumhaft schönen Blick in die sanfte Hügellandschaft zu genießen.

… und ein wenig Gemecker

20160708_123533 - KopieDoch noch ein letztes Mal zurück zum Haus von Sir Walter Scott. Einer der berühmtesten Kritiker der Stilmischungen an und in Abbotsford House ist Theodor Fontane. In seinem Werk Jenseits des Tweeds lässt er sich ausgiebig darüber aus, wie ich amüsiert gelesen habe. Fontanes Urteil ist jedoch so bissig, dass ich es hier nicht wiedergeben möchte. Denn Abbotsford House ist etwas Besonderes für mich. Vor allem die mit vielen Erstausgaben reich bestückte Bibliothek mit dem schönen Blick hinunter zum Fluss Tweed. Ich bin erleichtert, dass wenigstens im Haus und in den prächtigen Gartenanlagen rundherum noch fast alles so ist, wie ich es in Erinnerung habe. Denn das gilt beileibe nicht für den Teil jenseits von Hof und Haus. Seit 2013 gibt es hier ein sehr großes – zugegeben – dezent gestaltetes Besucherzentrum. Dort bekommt man nicht nur die Eintrittskarten, sondern auch allerlei Schönes aus Tweed und anderen Materialien mit viel Karo und Co. Und eine Etage höher – mit Blick hinüber zu Abbotsford House – befindet sich ein stylishes Restaurant, in dem ich Scones mit Clotted Cream und Erbeermarmelade von quadratisch-schickem Geschirr gegessen und Tee getrunken habe, nachdem ich zuvor (Please wait to be seated!) an einen Tisch komplimentiert worden war. Das Ambiente ist wirklich schön, keine Frage, und Scones und Tee waren köstlich. Dennoch habe ich ein bisschen wehmütig an den kleinen Tea Room mit Selbstbedienung, einfachen Stühlen und Tischen und einem sehr begrenzten Angebot an Speisen und Getränken gedacht,  der sich nahe an Abbotsford House befand und in dem ich früher immer eingekehrt bin. Na bitte, nun blicke auch ich sehnsüchtig in die Vergangenheit. Wenn das nicht Romantik pur ist …

Enge Nachbarn: Priorwood Garden und Melrose Abbey

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Mitten im pittoresken Örtchen Melrose in den Scottish Borders liegt Priorwood Garden. Dieser besondere Garten ist von drei hohen Steinmauern sowie einer kleinen Baumpflanzung eingerahmt. Trotz dieser Abgrenzung ist Priorwood Garden öffentlich (und kostenlos) über einen kleinen Laden zugänglich. Wenn gerade keine Hochzeit stattfindet. Denn der Garten bietet außer traumhaft schönen Blumenrabatten, einer riesigen Obstwiese mit hauptsächlich alten Apfelsorten, einem kleinen Gemüse- und Kräutergarten sowie der erwähnten Baumlandschaft etwas, das kaum ein anderer Ort vorweisen kann: Den Blick auf die romantische Abteiruine von Melrose.

20160711_135204 - KopieDarum führt mich mein Weg zuerst nach Priorwood Garden. Hier ist es viel stiller als in der Abbey. Auf einer Bank zwischen Obstbäumen sitzend stelle ich mir vor, wie das Leben der Mönche hier wohl im 12. Jahrhundert verlaufen ist. Sie gehörten dem Orden der Zisterzienser an und ihr Tag war vermutlich von Gebeten und strengen Übungen geprägt. Unterstützung – vor allem bei den schweren körperlichen und anderen alltäglichen Arbeiten – erhielt der Orden von sogenannten Laienbrüdern. Ihnen war für den Gottesdienst der hintere Kirchenteil bestimmt. Die Laienbrüder kamen aus der nahen Umgebung, und fanden hier sichere Arbeit, Essen und eine Unterkunft.

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Der gotische Klosterbau Melrose ist einer der vier großen Abteiruinen in den Scottish Borders. Er soll auf Wunsch von König David I. von Schottland (1080-1153) ab dem Jahr 1136 errichtet worden sein. Melrose ist zugleich Ruhestätte verschiedener schottischer Könige wie Alexander II. (1214-1249). Der Legende nach soll auch das Herz von Robert the Bruce (1274-1329) auf dem Klostergelände bestattet liegen. 20160711_150952 - KopieDieser Ururururenkel von König David I. kämpfte während des ersten schottischen Unabhängigkeitskriegs (1296-1328) als Anführer der aufständischen Schotten gegen England. Das Herz von Robert the Bruce wurde von einem Kreuzzug zurück nach Schottland gebracht. 1560 endete schließlich das mönchische Leben von Melrose aufgrund der Reformation.

Doch zurück zu meinem stillen Platz auf der Obstwiese von Priorwood Garden. So lebendig sich dieser 0,8 Hektar große Garten mir mit all seinen unterschiedlichen Pflanzen und mannigfaltigen Blüten im Moment auch präsentiert, so ‚verdorrt‘ wird diese Pracht am Ende sein. Denn die Pflanzen werden für die unterschiedlichsten Zwecke getrocknet. Im langgestreckten Gebäude zu Füßen der Abtei findet dieser Trocknungsvorgang statt. Genutzt werden die Trockenblumen vor allem zur Dekoration, aber auch für kosmetische Produkte. Einige davon kann man im kleinen Laden von Priorwood Garden kaufen. Wer, wie ich, mehr Interesse an lebendigen Pflanzen hat, findet neben dem Eingang in den Garten eine große Auswahl an Stauden zum Kauf.

Übrigens befindet sich im „Trocknungshaus“ auch eine Vertretung des National Trust for Scotland. Der freundliche Mitarbeiter dort fragte mich nach meinen weiteren Reisezielen. Als er hörte, dass ich noch in die Highlands reisen wolle, bot er mir an, Orte und Zeiten herauszusuchen, an denen gerade Highland-Games stattfänden. Die müsse ich doch unbedingt einmal erlebt haben. Der Mann hielt Wort. Nachdem ich in aller Ruhe den Garten genossen hatte, überreichte er mir eine kleine handschriftliche Liste. Mal schauen, ob ich es wenigstens zu einem dieser Orte schaffe.

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Was Priorwood Garden betrifft, so sind erste Zeugnisse aus dem 19. Jahrhundert bekannt, als dieser als Küchengarten für Priorwood House diente. 1975 nahm sich schließlich der National Trust for Scotland des verwilderten Gartens an und unterband damit Pläne, das Gelände zu einem Parkplatz ‚umzugestalten‘. Erwähnen muss ich noch, dass es in Melrose einen weiteren öffentlichen und ebenso bekannten Garten gibt: Harmony Garden. Für einen Besuch dort fehlte mir leider die Zeit. Ein Versäumnis, das ich beim nächsten Besuch in Melrose unbedingt wettmachen werde.

20160711_153010 - KopieNatürlich bin ich nach meinem Aufenthalt in Priorwood Garden endlich zur Abtei  gegangen. Nach einem ausführlichen Gang durch das Innere der Ruine, einem Weg über den Friedhof mit den uralten Grabsteinen und einem Blick auf das Melrose-Schwein mit Dudelsack, einer Skulptur an der Außenseite des Gemäuers, habe ich schließlich noch das Commendator’s House aus dem Jahr 1590 auf dem Abtei-Gelände besucht. Dieses ist heute ein kleines Museum mit Exponaten, die rund um das Kloster gefunden wurden. Und dort konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, für ein paar Augenblicke selbst einmal Mönch, beziehungsweise Nonne zu sein.

20160711_145308 - KopieZum Abschluss bin ich noch einmal zur Abteiruine zurückgekehrt und die kleine Treppe zur engen Aussichtsplattform hoch oben neben den Zinnen gestiegen und habe den Blick in die umliegenden Eildon Hills 20160711_145836 - Kopiegenossen. König Artus soll dort begraben liegen. Und gar nicht weit entfernt, in der Dryburgh Abbey, hat Sir Walter Scott, der schottische Schriftsteller, seine letzte Ruhe gefunden. In direkter Nähe zu seinem Wohnsitz Abbotsford House. Doch den Besuch dort hebe ich mir für einen anderen Tag auf …

Rosslyn Chapel – ein Ort mit Magie und Geschichte(n)

Rosslyn Chapel

Nur wenige Meilen von Edinburgh entfernt liegt Rosslyn Chapel. Um die kleine gotische Kirche aus dem 15. Jahrhundert ranken sich unzählige Geschichten und Spekulationen. Hollywood hat noch einige hinzugefügt und die Besucherzahlen damit auf über 130.000 pro Jahr anwachsen lassen. Rosslyn Chapel erträgt das alles mit Engelsgeduld. Oder mit der vielfach beschworenen Magie. Ich bin jedenfalls sehr gespannt, was mich erwartet. Auf dem Weg dorthin komme ich erst einmal durch das Örtchen Roslin, das sich kurz nach Baubeginn von Rosslyn Chapel durch die vielen Handwerker gebildet hat, die am Erstehen des vielleicht ungewöhnlichsten Sakralbaus beteiligt waren.

40 Jahre dauerten die Arbeiten an der Kirche an. Begonnen haben sie im Jahr 1446, nachdem der letzte Orkney-Prinz, Sir William St. Clair, den Bau geplant und begründet hatte. Als vier Jahrzehnte später die Arbeiten mit dem Tode St. Clairs unterbrochen wurden, umfasste Rosslyn Chapel erst ein Drittel der Größe, die sein Gründer ursprünglich vorgesehen hatte. Denn der später entdeckte eigentliche Grundriss entspricht laut Expertenmeinung dem Herodianischen Tempel in Jerusalem.

Bevor ich ins geheimnisumwobene Kirchengebäude gelange, muss ich erst einmal durch ein modernes Besucherzentrum gehen und ein Ticket kaufen. Doch dann ist es schließlich so weit. Ich stehe in der Kirche und bin augenblicklich überwältigt von der einzigartigen Fülle an Steinmetzkunst.

Ein mittelalterlicher Comic

20160803_073552Auf 21 Metern Länge und fast 13 Metern Höhe scheint fast jeder Quadratzentimeter von unterschiedlichsten Motiven überzogen zu sein. Engel, Pflanzen, biblische Szenen und überall Ornamentik. Ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Was diese Steinmetzkunst neben ihrer ungewöhnlichen Menge und Vielfalt so besonders macht, ist die Qualität der Arbeiten. Keine Frage, hier haben die besten Steinbildhauer ihrer Zeit ein bis heute einzigartiges Gesamtkunstwerk geschaffen. Dieses setzt biblische Szenen ins Bild oder zeigt Symbole mit mehreren Bedeutungsebenen. So wurden Geschichten und Botschaften für alle Menschen ‚lesbar‘ gemacht. Denn nur wenige konnten zur Entstehungszeit dieser Kirche die in Latein verfasste Bibel verstehen.

Im Südschiff stoße ich auf einen Fries, der die sieben Todsünden verbildlicht. Nach der Bibel sind dies: Stolz, Völlerei, Habgier, Zorn, Neid, Faulheit und Wollust. Diesen gegenüber stehen die sieben Werke der Barmherzigkeit, die heißen: Bedürftigen helfen, Nackte bekleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Mildtätigkeit üben, Hungrige speisen und Tote bestatten. Ein Kirchenführer, der lebhaft und anschaulich meine Fragen beantwortet, erklärt, dass die Habgier, als eine der Todsünden, und die Mildtätigkeit, als ein Werk der Barmherzigkeit, auf den Friesen vertauscht worden seien. So stehe das Positive zwischen den Sünden und umgekehrt. Mir kommt der Gedanke, dass kleine Fehler und Ungereimtheiten einer Sache bisweilen noch mehr Spannung verleihen. Darüber lässt sich sicher streiten. Doch dieser Ort hält weitere Überraschungen für seine Besucher bereit.

Auffallend sind nämlich die vielen Bezüge zu den Tempelrittern, die in der ganzen Kirche zu finden sind. So ist das Gralskreuz gleich mehrfach abgebildet. Mal wird es von einem Engel gehalten, ein anderes Mal ist es in einem Schlussstein im Kirchenraum an der Decke zu sehen. Eine bedeutende Rolle sollen auch die Freimaurer gespielt haben. Einige der Steinmetzarbeiten geben sogar Einblicke in ihre geheimen Riten.

Von Tempelrittern und Gralssuchern 

20160803_074104Um Rosslyn Chapel spinnen sich unzählige Mythen, Legenden und Geschichten. Vor allem die Krypta, der älteste Teil der Kirche und über eine Treppe neben der Marienkapelle zu erreichen, weckt bis heute das Interesse von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen, aber auch von esoterisch Inspirierten und Verschwörungstheoretikern. Spekulationen zufolge sollen sich in der Krypta nämlich die Schriftrollen aus Salomons Tempel oder der Kopf von Johannes dem Täufer befinden. Ein anderes Gerücht vermutet die schottischen Kronjuwelen an diesem Ort, während wieder andere Stimmen die Krypta gar als Aufbewahrungsort der Bundeslade wähnen.

20160803_074023Eine Geschichte geht mir dann doch ‚unter die Haut‘. In der Marienkapelle stoße ich auf zwei prachtvoll verzierte Säulen. Die linke Säule soll, so die Erzählung, vom Steinmetzmeister der Rosslyn Chapel geschaffen worden sein. Sie ist wunderschön, jedoch viel schlichter als die zweite Säule. Diese prunkvolle, mit sich nach20160803_074048 oben windenden Ornamentbändern, soll der Lehrling – inspiriert durch einen Traum – in Abwesenheit des Meisters in den Stein gehauen haben. Der Meister war nach Rom gereist, um den Plan dieser Säule zu besorgen. Bei seiner Rückkehr fand er die bereits fertige Säule des Lehrlings in der Kirche vor. Aus Eifersucht auf seinen begabten Schüler bekam der Meister einen Wutanfall und erschlug den Lehrling noch vor der Säule. Dafür wurde der Meister mit dem Tode bestraft. Im westlichen Teil der Kapelle blicken nun die steinernen Köpfe des Lehrlings und seiner Mutter auf die Säule. Doch auch der Kopf des Mörders ist dort im Stein verewigt und dazu verurteilt auf das Werk seines Schülers zu schauen. Diese Geschichte soll der Hiramslegende der Feimaurer ähneln, manche Theorien vermuten sie sogar als Ursprung der Legende um den Architekten Salomons, Hiram Abif. Eine besondere Bedeutung erhält die Säule des Lehrlings noch durch acht Drachen im unteren Teil. Gemäß der nordischen Mythologie befinden sich genau acht Drachen an den Wurzeln des Weltenbaums Yggdrasil.

Green Man und mehr Natur

20160803_073903Eine wichtige Bedeutung kommt auch den Naturdarstellungen zu. Das keltische Fruchtbarkeitssymbol, der Green Man – ein männliches Blattgesicht -, findet sich in Rosslyn Chapel in mehr als hundert Varianten. Dabei sprießen Stängel und Blätter meist auch aus dem Mund der heidnischen Symbolfigur, was verschiedene Deutungen zulässt. Zum einen versinnbildlicht dies die bereits erwähnte Fruchtbarkeit. Genauso könnte man daraus entnehmen, dass die Worte des Green Man und alles, was von ihm ausgeht, im Einklang mit der Natur stehen.

Doch auch sonst wächst und blüht es üppig in der Kirche – wenn auch nur in steinerner Pracht. Die Decke ist in fünf verschiedene Bereiche unterteilt und zeigt in jeweils einem davon Gänseblümchen, Lilien, Rosen oder Sterne. Aber auch Pflanzen wie Farne, Eichenblätter, Aloe Vera oder Kohl sind im Stein nachgebildet.

Und beim Thema Natur wartet schon wieder ein Geheimnis auf den neugierigen Besucher: Die Darstellungen von Maiskolben im Südschiff entlang eines Fensterbogens werfen nämlich die berechtigte Frage auf, wie schottische Steinmetze schon Mitte des 15. Jahrhunderts Kenntnis von einer Pflanze haben konnten, die erst 1492 durch Christoph Kolumbus in Europa bekannt wurde. Der Legende nach soll der Großvater des Kirchengründers, Sir Henry St. Clair, bereits 1398 – und damit fast hundert Jahre vor Kolumbus – mit einer Gruppe Ritter Nordamerika erreicht und die Pflanze mitgebracht haben.

Hollywood war auch schon da

All diese ungelösten Geheimnisse locken seit Jahrhunderten Menschen zur Rosslyn Chapel. Dass sich die Zahl der Besucher heute auf einem Höchststand befindet, liegt auch daran, dass sich Hollywood vor einigen Jahren der Kapelle angenommen hat. Doch der Reihe nach. Im Jahr 2001 besuchte der US-amerikanische Romanautor Dan Brown die kleine gotische Kirche und wurde zu seinem Roman The Da Vinci Code (Sakrileg) angeregt. Die Geschichte wurde ein Weltbestseller und im Jahr 2006 mit Tom Hanks und Audrey Tatou in die Kinos gebracht. Darin geht es um einen Geheimbund, der das Geheimnis des Heiligen Grals hütet. Die Schlussszene des Films spielt in der Krypta von Rosslyn Chapel.

Und ’ne schwarze Katze

Dann wird es unerwartet auch für mich ein bisschen magisch. Während ich noch auf einer der alten Kirchenbänke sitze und immer Neues an Decken und Wänden entdecke, hat sich unbemerkt eine schwarze Katze angeschlichen und es sich neben mir auf der Bank gemütlich gemacht. Mein Erstaunen über den ungewöhnlichen Kirchenbesucher muss überdeutlich in meinem Gesicht abzulesen gewesen sein. Denn eine der freundlichen Kirchenführerinnen kommt sofort lachend auf mich zu und erzählt, dass die schwarze Katze seit zwölf Jahren täglicher Gast in der Kirche sei und meist den ganzen Tag über bleibe. Seine Besitzer, Anwohner aus der Nachbarschaft, würden ‚ihre‘ Katze nun regelmäßig in der Kirche besuchen. Gegen ausführliche Streicheleinheiten von mir hatte die Katze nichts einzuwenden.

Viele Rätsel um Rosslyn Chapel bleiben vermutlich ungelöst und ebenso viele Antworten umstritten. Eines ist aber sicher: Rosslyn Chapel hat bis heute nichts von ihrer Ausstrahlung und ihrem besonderen Zauber verloren. Mich hat diese Kirche jedenfalls in ihren Bann gezogen und steht nun bei jedem Schottland-Besuch auf meinem Programm. Bis heute ist Rosslyn Chapel übrigens in der Hand der Familie ihres einstigen Gründers, nun verwaltet vom Rosslyn Chapel Trust.

Und hier geht’s zur offiziellen Homepage von Rosslyn Chapel